Rz. 56

Eine aktive Verteidigung ist erst mit Kenntnis aller Tatumstände möglich, weshalb der Ermittlungsakte ein enormer Stellenwert zukommt. Der Verteidiger hat das Recht auf Akteneinsicht gem. § 147 StPO i.V.m. §§ 46 Abs. 1, 69 Abs. 3 S. 2 OWiG. Danach muss die Verwaltungsbehörde dem Verteidiger die beantragte Einsicht noch vor der Übersendung an die Staatsanwaltschaft gewähren. Unterbleibt dies, kann das Gericht die Sache wegen ungenügender Aufklärung des Sachverhalts zurückverweisen, § 69 Abs. 5 S. 1 BGB.

 

Praxistipp

Das Recht auf Akteneinsicht hat der Verteidiger erst, wenn sich der Tatverdacht gegen den Mandanten konkretisiert hat. Daher macht ein entsprechender Antrag erst Sinn, wenn ein Anhörungsbogen oder der Bußgeldbescheid ergangen sind, bzw. negativ ausgedrückt: Es gibt kein Akteneinsichtsrecht eines Zeugen.

 

Rz. 57

Mit Abschluss der Ermittlungen – genauer gesagt ab dem Zeitpunkt der entsprechenden Verfügung in der Akte – hat der Verteidiger das Recht auf volle Akteneinsicht. Wird diese verweigert, ist ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung möglich. Da der Antrag bedingungsfeindlich ist, sollte auf eine unnötige Formulierung "für den Fall, dass zwischenzeitlich keine Akteneinsicht gewährt worden ist" oder Ähnliches verzichtet werden.

Wird dem Verteidiger die Akteneinsicht – ganz oder teilweise – verweigert, kann darin eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung im Sinne des § 338 Nr. 8 StPO i.V.m. § 79 OWiG liegen. Um hiergegen erfolgreich vorzugehen, muss zunächst im Termin ein Antrag auf Unterbrechung bzw. auf Aussetzung der Hauptverhandlung gem. § 265 Abs. 4 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG gestellt werden. Wird dieser abgelehnt, muss ein Beschluss herbeigeführt werden, welcher die Grundlage für eine Rechtsbeschwerde bildet. Diese hat wiederum nur Erfolg, wenn dargelegt wird, dass sich der Verfahrensfehler konkret-kausal auf einen für die Gerichtsentscheidung wesentlichen Punkt auswirkt.[123]

 

Praxistipp

Sofern sich abzeichnet, dass ein für die Ahndung wesentlicher Aspekt nur mit vorenthaltenen Informationen aus der Akte weiter aufgeklärt werden kann, empfiehlt es sich im Zweifel einen Antrag mit einer entsprechend konkreten Begründung bereits vorzubereiten.

Verweigerte Unterlagen, welche sich nicht bei der zuständigen Verwaltungsbehörde befinden, können übrigens weder mit dem § 62 Abs. 1 S. 1 OWiG direkt angegriffen werden, noch mit den (hier ohnehin subsidiären) §§ 23 EGGVG. Vielmehr muss die verweigernde Stelle direkt angegangen werden und notfalls – nach Gegenvorstellung/Aufsichtsbeschwerde – ein Verwaltungsakt herbeigeführt werden. Erst gegen diesen ist dann die Beschwerde nach § 62 OWiG statthaft.[124] Eine isolierte Anfechtung einer Zwischenentscheidung ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar.[125]

Im Zweifel muss sich über die Hauptverhandlung hinaus bis zum Ablauf der Frist der Verfahrensrüge im Rechtsbeschwerdeverfahren weiter um die bislang unterbliebene Akteneinsicht bemüht werden, dies muss auch gegenüber dem OLG dargelegt werden. Andernfalls läuft die Verteidigung Gefahr, allein mit dem Vorwurf nicht ausreichend für die Akteneinsicht getan zu haben und der Rechtsbeschwerde verlustig zu werden.[126]

[123] OLG Hamm, Entsch. v. 25.5.2005 – 2 Ss OWi 261/05, Rn 15, juris = StraFo 2005, 468; BGH, Beschl. v. 23.9.2003 – 1 StR 341/03, juris.
[124] OLG Saarbrücken, Beschl. v. 9.10.2020 – Vas 3/20 = zfs 2021, 48, 49.
[125] A.A. offenbar: LG Hagen, Beschl. v. 5.3.2021 – 46 Qs 56/20 = zfs 2021, 293f. mit krit. Anm. Krenberger.

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