Rz. 205

Sofern tatsächlich ein Regelbeispiel erfüllt ist, bleibt zu klären, ob das Fahrverbot im Einzelfall reduziert oder hierauf ganz verzichtet werden kann. Konkret stellt sich die Frage, ob das Fahrverbot – ausgehend vom Erziehungsgedanken – erforderlich und angemessen ist. Die Entscheidung des Tatrichters hierzu ist vom Beschwerdegericht nur auf fehlerhafte Ermessenserwägungen hin zu prüfen.[444] Die Grundlage hierfür, die tatsächlichen Feststellungen, müssen ebenfalls in nachprüfbarer Form in die Entscheidung Eingang finden. Auf beides hat der Verteidiger zu achten.

 

Praxistipp

Der Verteidiger muss erstinstanzlich alle Tatsachen in ausreichender Form vortragen, welche für ein Absehen vom Fahrverbot in Frage kommen. Andernfalls ist dieser Vortrag präkludiert.[445]

 

Rz. 206

Abgestellt auf die tatbezogenen Umstände ist die Erforderlichkeit des Fahrverbotes zu prüfen, mithin also die Frage, ob mit einer Erhöhung der Geldbuße das Sanktionsziel ebenfalls erreicht werden kann. Der Richter muss dies zwingend berücksichtigen und auch in den Urteilsgründen erkennen lassen.[446]

Nach einer erheblichen Verfahrensdauer kann der erzieherische Zweck entfallen, weil die Tat zu weit zurück liegt und der Betroffene sich in der Zwischenzeit verkehrsgerecht verhalten hat.[447] Die Rechtsprechung zur Überlänge ist uneinheitlich, jedoch wird ein Zeitraum von mindestens zwei Jahren zwischen der Tat und dem Zeitpunkt der Ahndung in Betracht kommen.[448] Zum Teil weichen Obergerichte von der Zwei-Jahresgrenze ab.[449] Mit weiteren entlastenden Umständen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass vom Fahrverbot in kürzerer Zeit abgesehen bzw. dieses zumindest abgekürzt wird.

Hierbei muss unterschieden werden, ob der Zeitablauf vom Betroffenen oder von der Behörde bzw. dem Gericht verursacht wurde. Ob in die Berechnung dieser zwei Jahre auch die Dauer der Rechtsbeschwerdeinstanz einzurechnen ist, ist umstritten. Ein Teil der Obergerichte lehnt dies ab, da die Rechtsbeschwerdegerichte keine eigenen Tatsachenfeststellungen treffen und daher auch nicht beurteilen können, ob der Betroffene nach der Tat rechtstreu geblieben ist. Zudem hätte das Tatgericht das Verhalten des Betroffenen während des Beschwerdeverfahrens nicht berücksichtigt.[450] Dies greift in jedem Fall zu kurz, wenn die Sache wieder an das Tatgericht zurückverwiesen wird. Dann ist ja eine Überprüfung der kompletten Dauer möglich.

Auch wird teilweise das Argument angeführt, dass der Betroffene durch die Einlegung von Rechtsmitteln aktiv zur Verzögerung beiträgt. Es sei hier nicht einzusehen, weshalb er deswegen anders behandelt werden soll als ein Betroffener, der sein Fahrverbot akzeptiert und antritt. Das Ausschöpfen von Rechtsmitteln durch den Betroffenen kann aber nicht als unlauter angesehen werden.[451] Auch verkennt dieser Ansatz, dass dem Ordnungswidrigkeitenrecht eine Erziehungsfunktion innewohnt. Ist die Erziehungswirkung durch Zeitablauf entfallen, wird diese durch den Gleichbehandlungsgrundsatz auch nicht ersetzt.[452]

Bei einem Regelfahrverbot von drei Monaten kann eine sehr lange Verfahrensdauer durch eine Verkürzung des Fahrverbots kompensiert werden.[453] Wenn eine Denkzettel- und Warnungsfunktion des Fahrverbots nicht mehr vorliegt, ist auch eine Erhöhung der Geldbuße nicht angebracht.[454]

 

Rz. 207

 

Praxistipp

Auch bringen einige Obergerichte das aus dem Strafverfahren stammende Vollstreckungsmodell zur Anwendung: Danach kann bei überlanger Verfahrensdauer ein Teil der Strafe als vollstreckt gelten. Somit wird ein Strafausspruch unterhalb der Mindeststrafe verhindert, die überlange Verfahrensdauer aber dennoch ausgeglichen.[455]

Ob die strafrechtliche Begründung dieser Systematik auf das Ordnungswidrigkeitenrecht übertragen werden kann, wird nicht einheitlich bejaht. Die Verkürzung bzw. der Wegfall des Fahrverbots folgt hier vorrangig nicht wegen eines Verstoßes gegen das Beschleunigungsverbot, sondern aus dem Wegfall der Erziehungswirkung.[456] Dennoch findet das Strafvollstreckungsmodell Anwendung in der obergerichtlichen Praxis.[457]

Sofern das Verfahren sich vor dem Tatgericht bereits erheblich verzögert, kann in der Rechtsbeschwerde also vorsorglich auch die Verfahrensrüge bezüglich des verletzten Beschleunigungsverbotes erhoben werden.[458]

 

Rz. 208

Zudem sind die persönlichen Folgen beim Betroffenen mit dem Sanktionsziel ins Verhältnis zu setzen. Auch diese Prüfung der Angemessenheit ist in der Entscheidung zu berücksichtigen. Das Gericht muss feststellen, inwieweit unerträgliche Härten für den Betroffenen eintreten können. Die Ausnahmefälle wegen unzumutbarer Härte sind selten; die Staatsanwaltschaften und Obergerichte sind diesbezüglich äußerst restriktiv. Abgesehen werden kann von der Verhängung eines Regelfahrverbots, wenn der Verlust des Arbeitsplatzes droht. Es muss eine ganz außergewöhnliche Härte vorliegen, die auch nicht durch zumutbare Maßnahmen abgefedert werden kann.[459] Hier wird allein die Existenzgefährdung ein Absehen ermöglichen.

Eine Ausnahme vom...

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