Rz. 102
Die Hauptversammlung ist die Versammlung der Aktionäre; diese üben nach § 118 Abs. 1 S. 1 AktG ihre Rechte in Angelegenheiten der Gesellschaft grundsätzlich, also soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, in der Hauptversammlung aus. Unter den Voraussetzungen des § 118 Abs. 1 S. 2 AktG und einer darauf beruhenden Satzungsbestimmung können die Aktionäre auch online an der Hauptversammlung teilnehmen und auf diese Weise alle oder einen Teil ihrer Rechte in der Hauptversammlung ausüben. Bisher und nach dem Leitbild des Gesetzes war die Hauptversammlung eine Präsenzversammlung. Die Corona-Pandemie hat zu einer vorübergehenden Abweichung hiervon geführt. Seit Inkrafttreten des Gesetzes über Maßnahmen im Gesellschaftsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie (GesRuaCOVBekG) ist es nach § 1 Abs. 2 GesRuaCOVBekG möglich, die Hauptversammlung auf Entscheidung des Vorstands hin gänzlich virtuell abzuhalten. Die Regelung soll vorläufig bis zum 31.12.2021 gelten. § 118 Abs. 2 AktG lässt außerdem Satzungsbestimmungen zu, die die Möglichkeit einer Briefwahl eröffnen.
Die Zuständigkeiten der Hauptversammlung ergeben sich im Wesentlichen aus dem Aktiengesetz; es sind dies:
▪ |
die in § 119 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AktG aufgelisteten regelmäßigen Maßnahmen (Wahl des Aufsichtsrats und des Abschlussprüfers, Verwendung des Bilanzgewinns, Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat); |
▪ |
Struktur- oder Grundlagenentscheidungen nach § 119 Abs. 1 Nr. 5, 6 und 8 AktG (insbesondere Satzungsänderungen und Kapitalmaßnahmen), nach § 179a AktG (Übertragung des ganzen Vermögens), nach § 274 AktG (Fortsetzung der AG), nach §§ 293, 295 AktG (Unternehmensverträge), nach §§ 319, 320 AktG (Eingliederung), nach § 327a AktG (Squeeze-out) und nach Maßgabe des UmwG (Verschmelzung, Spaltung, Formwechsel, umwandlungsrechtlicher Squeeze-out); |
▪ |
Sonderfälle in aktienrechtlichen Einzelbestimmungen, wie z.B. Verzicht und Vergleich über Ersatzansprüche, §§ 50, 93 Abs. 4, 116 AktG u.a. |
▪ |
Billigung des vom Aufsichtsrat vorgelegten Systems zur Vorstandsvergütung (sog. say on pay) nach § 120a AktG (eingeführt durch ARUG II, siehe Rdn 10) |
Über Fragen der Geschäftsführung entscheidet die Hauptversammlung nur auf Verlangen des Vorstands, § 119 Abs. 2 AktG. Nach der Holzmüller-Entscheidung des BGH soll der Vorstand allerdings verpflichtet sein, Maßnahmen von weit reichender Bedeutung der Hauptversammlung zur Zustimmung vorzulegen, wenn sie die Rechte der Aktionäre so grundlegend berühren, dass der Vorstand vernünftigerweise nicht annehmen kann, er dürfe die Entscheidung ausschließlich in eigener Verantwortung treffen. Diese Rechtsprechung hat zu einer sehr streitigen Diskussion über die Abgrenzung der vorlagepflichtigen Maßnahmen im Einzelfall geführt. In den sogenannten Gelatine-Entscheidungen hat der BGH schließlich klargestellt, dass eine ungeschriebene Mitwirkungsbefugnis der Hauptversammlung bei Maßnahmen, die das Gesetz dem Vorstand als Leitungsaufgabe zuweist, nur ausnahmsweise und in engen Grenzen anzuerkennen ist. Nach dem BGH kommt eine Mitwirkungsbefugnis der Hauptversammlung allein dann in Betracht, "wenn eine von dem Vorstand in Aussicht genommene Umstrukturierung der AG an die Kernkompetenz der Hauptversammlung, über die Verfassung der AG zu bestimmen, rührt, weil sie Veränderungen nach sich zieht, die denjenigen zumindest nahe kommen, welche allein durch eine Satzungsänderung herbeigeführt werden können." Außer in Fällen der Ausgliederung könne diese Ausnahmezuständigkeit jedenfalls auch für die Umstrukturierung einer Tochter- in eine Enkelgesellschaft wegen des mit ihr verbundenen weiteren Mediatisierungseffekts in Betracht kommen. Eine wesentliche Beeinträchtigung der Mitwirkungsbefugnisse der Aktionäre und die der Hauptversammlung in der Folge zugebilligte Ausnahmezuständigkeit liege aber erst dann vor, wenn die wirtschaftliche Bedeutung der Umstrukturierungsmaßnahme in etwa die Ausmaße wie in der Holzmüller-Entscheidung (dort waren rund 80 % der Aktiva und zudem der Kernbereich der Unternehmenstätigkeit betroffen) erreicht. Klargestellt wurde ferner, dass ein Zustimmungsbeschluss der Hauptversammlung in diesen Fällen der Mehrheit von drei Vierteln des vertretenen Grundkapitals bedarf. Eine weitere ungeschriebene Hauptversammlungskompetenz nahm der BGH zeitweilig für das reguläre Delisting, also den Rückzug der Gesellschaft aus dem regulierten Markt, an. Mit der "Frosta"-Entscheidung hat er jedoch diese Rechtsprechung wieder zurückgedreht und sieht im Delisting, namentlich im Antrag auf Widerruf der Börsenzulassung, eine Geschäftsführungsmaßnahme, die keines zustimmenden Beschlusses der Hauptversammlung bedarf. Der Schutz der Anleger erfolgt mittlerweile über § 39 Börsengesetz.