1. Verschulden bei Vertragsschluss
Rz. 209
Ein Rechtsanwalt kann bei Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit nach den Grundsätzen des Verschuldens bei Vertragsschluss (culpa in contrahendo, vgl. § 13 Rdn 13 ff.), die jetzt in § 311 Abs. 2 BGB i.V.m. § 241 Abs. 2 BGB kodifiziert sind, zum Schadensersatz verpflichtet sein. Die vorvertraglichen Sorgfaltspflichten ggü. einem Vertragsinteressenten sind jedoch wesentlich enger begrenzt als innerhalb eines Vertragsverhältnisses. Eine solche vorvertragliche Haftung kommt auch wegen der Verletzung vorvertraglicher Fürsorge-, Belehrungs- oder Betreuungspflichten in Betracht. Vorvertragliche Pflichten sind häufig im Zusammenhang mit der Aufklärung des Mandanten über voraussichtlich anfallende Gebühren thematisiert worden. Denkbar ist eine vorvertragliche Haftung auch, wenn ein Gericht bereits gem. § 48 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 BRAO bzw. § 49a BRAO eine beantragte Beiordnung beschlossen, der Antragsteller mit dem beigeordneten Rechtsanwalt aber noch keinen Anwaltsvertrag geschlossen hat (vgl. Rdn 192 ff.).
2. § 44 Satz 2 BRAO
Rz. 210
Einen gesetzlich normierten Sonderfall des Verschuldens bei Vertragsschluss sowie des Anspruchs aus §§ 675 Abs. 1, 663 BGB enthält § 44 Satz 2 BRAO. Nach § 44 Satz 1 BRAO muss ein Rechtsanwalt, der in seinem Beruf in Anspruch genommen wird und den Auftrag nicht annehmen will, die Ablehnung unverzüglich erklären. Wenn der Rechtsanwalt diese Erklärung schuldhaft verzögert, ist er gem. § 44 Satz 2 BRAO verpflichtet, dem Anfragenden den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen. Der Rechtsanwalt hat das grundsätzliche Recht, Mandanten oder angetragene Mandate abzulehnen, gleichwohl muss ein Rechtsanwalt im Interesse einer funktionsfähigen Rechtspflege für Gerichte, Behörden und Rechtsuchende gleichermaßen erreichbar sein.
a) Angebot zum Abschluss eines Anwaltsvertrages
Rz. 211
§ 44 Satz 2 BRAO setzt voraus, dass der Rechtsanwalt "in seinem Beruf in Anspruch genommen wird". Dies bedeutet, dass dem Rechtsanwalt ein Angebot zum Abschluss eines Anwaltsvertrages zugegangen sein muss. Dies ist nicht der Fall, wenn dem Rechtsanwalt eine bloße Gefälligkeit (vgl. Rdn 28 ff.) oder eine anwaltsfremde Tätigkeit (vgl. Rdn 161 ff.) angetragen wird.
b) Zugang
Rz. 212
Ein Antrag auf Übernahme eines Mandats geht einem Rechtsanwalt zu, wenn der Antrag in dessen Kanzlei in einer Weise eingeht, dass der Rechtsanwalt selbst oder sein Vertreter hiervon bei normalen Verhältnissen Kenntnis nehmen kann und diese Kenntnisnahme nach der Verkehrsauffassung zu erwarten ist. Nimmt der Rechtsanwalt von dem Antrag früher Kenntnis, geht ihm der Antrag bereits zu diesem Zeitpunkt zu.
Rz. 213
Nach der Verkehrsauffassung soll von einem Rechtsanwalt zu erwarten sein, dass ihm ein eingehender Antrag noch am selben Tag, spätestens jedoch am Folgetag vorgelegt wird und somit zugeht. Der BGH hat zu §§ 233, 85 Abs. 2 ZPO entschieden, dass ein Rechtsanwalt die gebotene Sorgfalt verletzt, wenn er nicht dafür Sorge trägt, dass alle Eingänge durch einen verantwortlichen Juristen darauf geprüft werden, ob etwas zu veranlassen, insb. ob eine fristwahrende (Prozess-)Handlung vorzunehmen ist. Ein Rechtsanwalt müsse anordnen, dass zumindest alle Posteingänge, die nicht eindeutig in den ausschließlichen Bearbeitungskreis des Bürovorstehers fallen, am Tag ihres Eingangs ihm oder seinem Vertreter vorzulegen seien.
c) Keine Annahmeerklärung durch den Rechtsanwalt
Rz. 214
Ein Schadensersatzanspruch nach § 44 Satz 2 BRAO setzt des Weiteren voraus, dass ein Anwaltsvertrag noch nicht – auch nicht etwa stillschweigend (vgl. Rdn 15 ff.) – zustande gekommen ist. Vielmehr muss der Rechtsanwalt dem Anfragenden mitgeteilt haben, dass er dessen Angebot zum Abschluss eines Anwaltsvertrages nicht annimmt. Eine Haftung nach § 44 Satz 2 BRAO kommt auch dann in Betracht, wenn der Rechtsanwalt auf eine Anfrage, die auf den Abschluss eines Anwaltsvertrags gerichtet ist, gar nicht reagiert.
d) Schuldhafte Verzögerung der Ablehnungserklärung
Rz. 215
Ein Rechtsanwalt muss die Erklärung, dass er ein ihm angetragenes Mandat ablehnt, unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern abgeben. Nach dem Zugang eines Antrags auf Übernahme eines Mandats hat der Rechtsanwalt unverzüglich zu prüfen und zu entscheiden, ob er gem. §§ 43a Abs. 4, 45, 46 BRAO verhindert ist bzw. ob er das angetragene Mandat aus einem anderen Grund nicht übernehmen kann oder möchte. Diese Prüfung muss...