aa) Grundkenntnisse
Rz. 190
Ein Rechtsanwalt, der sich mit Verkehrsrecht befasst, muss in gewissem Umfang auch über unfallrekonstruktive Grundkenntnisse verfügen, um seinen Mandanten von Anfang an richtig zu beraten und im Prozessfall die erforderlichen Anknüpfungstatsachen für einen auf Einholung eines Sachverständigengutachtens gerichteten Beweisantrag stellen zu können.
Rz. 191
Diese kann er z.B. durch Teilnahme an den zahlreich von Sachverständigenbüros angebotenen Kursen und Seminaren erlangen. Viel Erfahrung ist auch aus der einschlägigen Literatur und den Fachzeitschriften für Sachverständige zu gewinnen, insbesondere aufgrund der dortigen fotografischen Dokumentationen (sehr instruktiv, insbesondere für das frühzeitige Erkennen manipulierter Unfälle, ist auch das Buch des Sachverständigenbüros Schimmelpfennig und Becke in Münster: Michael Weber, Die Aufklärung des Kfz-Versicherungsbetruges, Schriftenreihe Unfallrekonstruktion).
bb) Vermeidbarkeitsbetrachtungen
Rz. 192
Das Grundwissen sollte zumindest aber Vermeidbarkeitsbetrachtungen umfassen.
Dazu wird zunächst eine Berechnungstabelle für Bremsweg- und Geschwindigkeit (Bremswegrechner) benötigt, wie sie im Fachhandel und bei den einschlägigen Anwaltsbedarfsfirmen zu beziehen ist. Inzwischen gibt es sie auch reichlich als Freeware-EDV-Tabellen oder als Zubehör zu Computerprogrammen.
Rz. 193
Die nachfolgenden Bremswegtabellen ermöglichen dem Verteidiger eine Grobberechnung von Geschwindigkeiten, Wegstrecken sowie Bremswegen und -zeiten.
Geschwindigkeits-, Bremszeit- und Bremswegtabelle
Anwendung der Tabelle:
1. |
In den ersten drei Zeilen sind die Reaktionswege (Reaktionsweg inkl. Schwellweg) in Abhängigkeit der Geschwindigkeit dargestellt. Die Schwellzeit beträgt jeweils 0,2 sec. |
2. |
Die einzelnen Bremswege bei Berücksichtigung des Schwellweges sind in der unteren Tabellenform in Abhängigkeit zur Verzögerung 1 bis 10,0 m/s2 dargestellt. Die Bremswege gelten je nach Geschwindigkeit bis zum Fahrzeugstillstand. |
3. |
Gesamtanhalteweg: Der Gesamtanhalteweg ergibt sich aus der Summe von Reaktions-, Schwell- und Bremsweg. |
4. |
Unterbrochene Bremsung: Wird das Fahrzeug aus einer gewissen Geschwindigkeit nicht zum Stillstand abgebremst, so kann der Bremsweg auch aus der Differenz der Tabellenwerte ermittelt werden.
▪ |
Z.B.: Ein Pkw wird von 100 km/h auf 50 km/h abgebremst. Der Bremsweg bei Unterstellung einer Verzögerung von 7,5 m/s2 ergibt sich aus 48,71 – 11,53 = 37,18 m. |
▪ |
Umgekehrt: Welche Geschwindigkeit hat ein Pkw, wenn er von 100 km/h bei einer Verzögerung von 7,5 m/s2 über eine Bremsstrecke von 18,0 m voll verzögert wird? |
▪ |
Vom Bremsbeginn bis zum Fahrzeugstillstand ergibt sich ein Gesamtbremsweg von 48,71 m. Wird nun die Bremsstrecke von 18 m abgezogen, so ergibt sich ein Differenzbetrag von 30,71 m. |
▪ |
Jetzt braucht nur noch in der Verzögerungszeile 7,5 m/s2 nach rechts gesucht zu werden, bis der Betrag in der gleichen Größenordnung auftaucht, was hier 30,73 m = 80 km/h ergibt. |
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5. |
Bremszeit: Die Bremszeit je nach Ausgangsgeschwindigkeit und herangezogener Verzögerung ist rechts neben dem Bremsweg jeweils in sec dargestellt. Wird die Gesamtzeit vom Reaktionspunkt bis zum Fahrzeugstillstand benötigt, so müssen die Reaktionszeit und die Schwellzeit zu der reinen Bremszeit hinzuaddiert werden. |
6. |
Verzögerungswerte: Ohne durchgeführte Fahrversuche ist die Zuordnung des Verzögerungswertes zu einer vorliegenden Spur nicht immer einfach. Je nach Spurenbild ist somit jede Spur gesondert zu beurteilen. Nachfolgend werden Verzögerungsbereiche in Abhängigkeit zur Fahrbahnoberfläche und auch zur Reifenart angegeben: |
Diagonal- und Gürtelreifen auf trockener Schwarzteerdecke |
7,0 bis 9,5 m/s2 |
Diagonal- und Gürtelreifen auf nasser Schwarzteerdecke |
5,5 bis 8,5 m/s2 |
Auf Betonfahrbahnoberflächen sind ähnliche Werte zu erwarten. |
Auf Pflasterstraßen ist in der Regel ein Abzug von 10 bis 25 % vorzunehmen. |
Schneebedeckte Fahrbahn |
1,5 bis 3.5 m/s2 |
Eis |
1,0 bis 2,5 m/s2 |
Schmierige Straße |
2,0 bis 5,5 m/s2 |
Eine solche Tabelle sieht z.B. wie folgt aus:
Quelle: Gebhardt, Das verkehrsrechtliche Mandat, Bd. 1, 9. Auflage 2020, § 48 Rn 60.
Rz. 194
Alsdann gibt es drei Vermeidbarkeitsbetrachtungen:
▪ |
die räumliche Vermeidbarkeit, |
▪ |
die zeitliche Vermeidbarkeit und |
▪ |
die juristische Vermeidbarkeit. |
Zur Veranschaulichung soll auf die nachfolgenden Schaubilder verwiesen werden (siehe Rdn 202 ff.).
(1) Räumliche Vermeidbarkeit
Rz. 195
Hierbei wird überprüft, ob nicht eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit vorliegt und der Unfall bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit räumlich vermieden worden wäre.
Rz. 196
Zunächst muss die gefahrene Ausgangsgeschwindigkeit ermittelt werden. Das ist z.B. aus der Länge der festgestellten Bremsspur mit Hilfe des Bremswegrechners möglich. Allerdings ist zuvor die Frage zu klären, ob die maßgeblichen Bremsspuren auch tatsächlich dem Unfallgeschehen zuzuordnen sind.
Rz. 197
Eine maßgebliche Rolle spielt dabei der Bremsverzögerungswert. Er ist abhängig z.B. von der Art des Fahrzeuges und der Fahrbahnbeschaffenheit. Bei Pkw auf...