I. Fallbeispiel
Rz. 50
Beispiel: Der Erblasser war spanischer Staatsangehöriger, stammte aus Bilbao, und hat die letzten 20 Jahre seines Lebens mit seiner Familie in Cambridge gelebt. Durch Testament vermachte er seine Anteile an einer französischen Aktiengesellschaft, die fast den gesamten Nachlass ausmachen, seiner Tochter. Das Testament hatte er bei einem Besuch in Paris errichtet, indem er den Text, den sein Anwalt mit der Schreibmaschine geschrieben hatte, eigenhändig abschrieb und unter Angabe von Tag und Ort unterzeichnete. Zeugen wirkten bei der Errichtung des Testaments nicht mit.
1. |
Ist das Testament des Erblassers wirksam? |
2. |
Welche Rechte hat der Sohn des Erblassers? |
II. Formulierung der Rechtsfrage
Rz. 51
Das IPR ergibt nicht unmittelbar die rechtliche Lösung des Falls. Vielmehr bestimmt das IPR allein, aus welchem Recht sich die Lösung ergeben soll (Verweisung).
Rz. 52
Ausgangspunkt der Falllösung ist – wie bei rein nationalen Fällen – eine Rechtsfrage, also die Verbindung eines bestimmten Sachverhalts mit einer mutmaßlichen Rechtsfolge. Während in rein nationalen Fällen die Rechtsfrage gleich schon auf eine bestimmte Anspruchsgrundlage gestützt werden kann, ist dies in internationalen Fällen schwieriger, da verschiedene Rechtsordnungen den Anspruch anders befriedigen könnten. So könnte es sich bei den Rechten des übergangenen Sohnes im Beispiel je nach anwendbarem Recht um einen Geldanspruch gegen die Schwester handeln (deutsche Lösung), um eine erbrechtliche Mindestbeteiligung am Nachlass unter Anfechtung des Testaments (französisches Recht) oder um das Recht, vor Gericht eine Verurteilung des Nachlassverwalters zu einer vom Gericht nach eigenem Ermessen festzulegenden Leistung an den übergangenen Angehörigen zu verlangen (family provision nach dem englischen Inheritance Act). Die "Rechtsfrage" ist daher unspezifischer zu stellen als bei rein nationalen Fällen.
Rz. 53
Im Beispiel wäre also nicht zu formulieren: "Steht dem Sohn ein Pflichtteilsanspruch gegen die Alleinerbin zu?", sondern besser: "Welche Rechte stehen ihm aufgrund der Übergehung im Testament gegen den Nachlass zu?" Die Rechtsfrage zu Ziff. 1 könnte lauten: "Welche Wirkungen kommen den vom Erblasser getroffenen Anordnungen zu?" (inhaltliche Wirksamkeit) bzw. "Konnte der Erblasser in dieser Art und Weise wirksam testieren?"
III. Qualifikation der Rechtsfrage
Rz. 54
Die Rechtsfrage ist einer bestimmten Kollisionsnorm zuzuordnen (Qualifikation). Hierbei handelt es sich um den ersten entscheidenden Abschnitt der kollisionsrechtlichen Falllösung.
Rz. 55
In den meisten Fällen ist die Qualifikation einer Rechtsfrage so eindeutig, dass sie dem Rechtsanwender als gedanklicher Schritt kaum bewusst wird. Die besondere Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass sich die Systembegriffe der Kollisionsnorm zwar regelmäßig an den Kategorien des inländischen materiellen Rechts orientieren, aber auch dem eigenen Recht fremde Erscheinungen erfasst werden müssen. In fremden Rechtsordnungen können eine vergleichbare Funktion erfüllende Institute systematisch abweichend geregelt sein. So ist im spanischen Recht der Pflichtteil nicht als Geldanspruch, sondern als Noterbrecht ausgestaltet. Die EuErbVO und andere europäische Regelwerke zum Kollisionsrecht enthalten daher notwendigerweise Regeln zum Inhalt der eingesetzten Systembegriffe. So definiert Art. 23 EuErbVO den Inhalt des in Art. 21, 22 EuErbVO bestimmten Erbstatuts und Art. 26 EuErbVO des in Art. 24, 25 EuErbVO bestimmten "Errichtungsstatuts".
Rz. 56
Die unentziehbaren Rechte des Sohnes am Nachlass des Vaters im Beispiel könnte man unter den Begriff "die Berufung der Berechtigten, die Bestimmung ihrer jeweiligen Anteile und etwaiger ihnen vom Erblasser auferlegter Pflichten sowie die Bestimmung sonstiger Rechte an dem Nachlass" (Art. 23 Abs. 2 lit. b EuErbVO) oder unter den Begriff "der verfügbare Teil des Nachlasses, die Pflichtteile und andere Beschränkungen der Testierfreiheit sowie etwaige Ansprüche von Personen, die dem Erblasser nahe stehen, gegen den Nachlass oder gegen den Erben" (Art. 23 Abs. 2 lit. h EuErbVO) subsumieren und damit erbrechtlich qualifizieren. Schwieriger wäre die Entscheidung, wenn der Sohn aufgrund des englischen Inheritance Act einen Anspruch auf bedarfsbezogene periodische Geldzahlungen geltend machte, da dieser möglicherweise als Unterhaltsanspruch i.S.d. Haager Unterhaltsprotokolls (HUP) qualifiziert werden könnten (vgl. aber Art. 1 Abs. 2 lit. e EuErbVO und § 3 Rdn 103).
Rz. 57
Die Frage, ob der Testator ein Testament eigenhändig ohne Beiziehung von Zeugen errichten kann, hat mit dem Inhalt und den Wirkungen der im Testament getroffenen Verfügungen nichts zu tun, wäre daher als Frage der Formgültigkeit des Testaments zu qualifizieren und somit der Regelung des Art. 27 EuErbVO bzw. dem Haager Testamentsformübereinkommen zuzuweisen.
IV. Anknüpfung des Erbstatuts
Rz. 58
Hat man die einschlägige Kollisionsnorm ermittelt, so muss dieser die Rechtsfolge entnommen werden. Die Rechtsfolge besteht bei einer Kollisionsnorm darin, dass diese das anwendbare Recht bezeichnet (Verweisung). Das anwe...