Rz. 61
Für die Erbfolge – im Beispiel mithin die Pflichtteilsberechtigung des Sohnes – verweist Art. 21 EuErbVO aufgrund des Lebensmittelpunkts und damit seines gewöhnlichen Aufenthalts in Cambridge auf das Recht des Vereinigten Königreichs. Da das Vereinigte Königreich nicht Mitgliedstaat der EU ist und wegen Verweigerung des Opt-in auch vor dem BREXIT nicht "Mitgliedstaat" i.S.d. EuErbVO gewesen ist (vgl. EG 82 EuErbVO), ist das Recht des Vereinigten Königreichs das "Recht eines Drittstaats" i.S.v. Art. 34 EuErbVO. Daher ist gem. Art. 34 Abs. 1 EuErbVO nach Verweisung auf das Recht des Vereinigten Königreichs auch das internationale Erbrecht des Vereinigten Königreichs zu beachten.
Rz. 62
An dieser Stelle ist zu berücksichtigen, dass in einigen Staaten – wie auch im Vereinigten Königreich – kein einheitliches Rechtssystem besteht. Vielmehr gelten in den Landesteilen England und Wales, in Schottland und in Nordirland jeweils eigene Regeln, und zwar sowohl für das materielle Erbrecht als auch für das Internationale Privatrecht. Mithin ist vor Prüfung des Renvoi die einschlägige Teilrechtsordnung zu bestimmen.
Rz. 63
Bei einer derartigen interlokalen Rechtsspaltung sind gem. Art. 36 Abs. 1 EuErbVO vorrangig die für die internen Rechtskollisionen geltenden Kollisionsvorschriften dieses Staates (also ein landeseinheitliches System des interlokalen Kollisionsrechts) anzuwenden. Ein solches landeseinheitliches System des interlokalen Kollisionsrechts existiert z.B. in Spanien, nicht aber im Vereinigten Königreich. Art. 36 Abs. 2 lit. a EuErbVO bestimmt für diesen Fall ersatzweise, dass jede Verweisung aufgrund einer Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers als Bezugnahme auf das Recht der Gebietseinheit zu verstehen ist, in der der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Die Verweisung auf das Recht des Vereinigten Königreichs wird also quasi "verlängert", indem die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt auch für die Bestimmung der einschlägigen Teilrechtsordnung eingesetzt wird. Aufgrund des gewöhnlichen Aufenthalts in Cambridge, also England, ergibt sich damit die Geltung des im Landesteil England und Wales geltenden Rechts.
Rz. 64
Diese Verweisung erfasst gem. Art. 34 Abs. 1 EuErbVO zunächst das englische internationale Erbrecht (siehe Rdn 62). Das englische ungeschriebene, aber in langer Rechtsprechung herausgebildete common law unterstellt die Erbfolge in das unbewegliche Vermögen dem jeweiligen Belegenheitsrecht, während für die Vererbung des beweglichen Nachlasses das Recht des Staates gilt, in dem der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes sein domicile hatte. Zur Differenzierung, ob es sich bei einem Vermögensgegenstand um bewegliches oder unbewegliches Vermögen handelt (Qualifikation), verweist das englische common law ebenfalls auf das Recht des Staates, in dem der jeweilige Vermögensgegenstand belegen ist (Qualifikationsverweisung). Mithin ist dem französischen Recht zu entnehmen, ob es sich bei den Aktien an der französischen Gesellschaft um bewegliches oder – z.B. wegen Vorliegens einer reinen Immobilienholding – um unbewegliches Vermögen handelt. Dabei ist zu unterstellen, dass nach französischem Zivilrecht – anders als im französischen Steuerrecht – die Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft im kollisionsrechtlichen Sinne stets als chose mobile anzusehen ist und ein "Durchgriff" auf das Gesellschaftsvermögen nicht erfolgt. Maßgeblich ist also die Kollisionsnorm für die Vererbung des beweglichen Nachlasses, so dass das englische Kollisionsrecht auf das Recht des Staates verweist, in dem sich das letzte domicile des Erblassers befand. Das domicile als Anknüpfungspunkt des englischen Kollisionsrechts wiederum ist nach den hierfür herausgebildeten Maßstäben des englischen common law zu bestimmen. Dieses unterscheidet zwischen verschiedenen Formen des domicile und hat insoweit eine umfassende Kasuistik herausgebildet. Im Vergleich zur Staatsangehörigkeit fällt auf, dass diese wohl noch leichter gewechselt werden kann als das domicile des englischen Rechts – während das domicile des Rechts der US-amerikanischen Staaten wohl eher dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nach der EuErbVO nahekommen wird.
Rz. 65
Die Begründung eines sog. domicile of choice in England und Wales wird daher im Beispiel wohl nur dann in Betracht kommen, wenn der Aufenthalt in Cambridge zuletzt nicht mehr allein berufsbedingt war, sondern davon ausgegangen werden kann, dass der Erblasser dort unabhängig von anderen äußeren Anlässen verblieben wäre, also die Absicht zu einer (eventuellen) Rückkehr nach Spanien aufgegeben hatte. Aus englischer Sicht wäre dann also auf die Vererbung des beweglichen Nachlasses ebenfalls das englische Recht anwendbar. Das englische Recht würde dann die Verweisung "annehmen" und ist damit Erbstatut.
Rz. 66
Anders freilich wäre die Entscheidung, wenn der Erblasser sein domicile i.S.d. englischen Rechts in der spanischen Provinz Baskenland hätte....