Dr. Julia Bettina Onderka, Dr. Michael Pießkalla
Rz. 226
Die Geschäftsgebühr nach Teil 2 VV RVG wird nach Vorb. 3 Abs. 4 VV RVG zur Hälfte auf die Verfahrensgebühr angerechnet, höchstens jedoch mit einem Gebührensatz von 0,75. Die Anrechnung erfolgt nur, wenn die Geschäftsgebühr "wegen desselben Gegenstands" entstanden ist wie die Gebühren für das gerichtliche Verfahren. Seit dem 1.1.2021 gilt ferner, dass in jenen Fällen, in denen mehrere Gebühren teilweise auf dieselbe Gebühr anzurechnen sind, der anzurechnende Betrag für jede anzurechnende Gebühr gesondert zu ermitteln ist. Bei Wertgebühren darf der Gesamtbetrag der Anrechnung jedoch denjenigen Anrechnungsbetrag nicht übersteigen, der sich ergeben würde, wenn eine Gebühr anzurechnen wäre, die sich aus dem Gesamtbetrag der betroffenen Wertteile nach dem höchsten für die Anrechnungen einschlägigen Gebührensatz berechnet.
Diese Berechnungsmethode hat erhebliche Vorteile für die Anwaltschaft. So wird z.B. bei zwei außergerichtlichen Angelegenheiten mit Streitwerten von einmal 5.000 EUR und einmal 9.000 EUR, welche in einen einheitlichen Rechtsstreit über 14.000 EUR münden, von der Verfahrensgebühr des Gerichtsverfahrens nicht hälftige Geschäftsgebühren aus einmal 5.000 EUR und einmal 9.000 EUR angerechnet, sondern maximal die hälftige Geschäftsgebühr aus 14.000 EUR.
a) Zeitlicher Zusammenhang
Rz. 227
Es muss zunächst ein zeitlicher Zusammenhang mit der außergerichtlichen Tätigkeit des Rechtsanwalts bestehen. Das ist dann der Fall, wenn dieser mit der Angelegenheit noch vertraut und keine vertiefte erneute Einarbeitung erforderlich ist. Wann ein solcher zeitlicher Zusammenhang besteht, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Als Maximum kann die 2-Jahres-Frist des § 15 Abs. 5 S. 2 RVG herangezogen werden.
Rz. 228
Beispiel
Fahrer F hat – vertreten durch A – im Jahre 2010 außergerichtlich eine Verpflichtungserklärung seines Unfallgegners G erwirkt, die sich auf die künftigen Folgeschäden aus den Unfallverletzungen bezieht. Im Jahre 2013 will er, nachdem von seinen Ärzten nunmehr eine dauerhafte Minderung der Erwerbsfähigkeit festgestellt wurde, G gerichtlich auf Ersatz von 80.000 EUR in Anspruch nehmen.
Hier fehlt der zeitliche Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Auftrag, so dass eine Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr nicht in Betracht kommt.
b) Personeller Zusammenhang
Rz. 229
Daneben muss auch ein personeller Zusammenhang bestehen. Derselbe Rechtsanwalt oder dieselbe Sozietät muss gegenüber der gleichen Person tätig werden. An diesem personellen Zusammenhang fehlt es, wenn der Rechtsanwalt im Rahmen der Unfallschadensregulierung zunächst den Haftpflichtversicherer des Gegners zur Zahlung auffordert, dann aber lediglich den Gegner selbst verklagt. Hier richtet sich das Begehren gegen zwei verschiedene Personen, die beide aufgrund eines eigenen Anspruchs – der Schädiger aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG und der Versicherer aus § 115 Abs. 1 VVG – in Anspruch genommen werden können.
Rz. 230
Beispiel
Nach einem Unfall wendet sich der von F beauftragte Anwalt A zunächst an den gegnerischen Haftpflichtversicherer V. Dieser lehnt den Schadensersatzanspruch mit der Begründung ab, der Unfall sei durch ein überwiegendes Verschulden des F verursacht worden. Sodann erhebt A Klage nur gegen den Unfallgegner G.
In diesem Fall ist die durch die Tätigkeit gegenüber V verdiente Geschäftsgebühr nicht auf die Verfahrensgebühr im Klageverfahren gegen G anzurechnen.
Rz. 231
Anderes gilt jedoch, wenn der Geschädigte keinen Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer des Schädigers nach § 115 VVG hat, wie beispielsweise bei einer Berufshaftpflichtversicherung. In diesem Fall ist die Geschäftsgebühr für die außergerichtlichen Vergleichsverhandlungen mit dem Versicherer auf die Gebühren des Klageverfahrens gegen den Schädiger anzurechnen.
Rz. 232
An dem erforderlichen personellen Zusammenhang fehlt es auch, wenn außergerichtlich ein anderer Anwalt tätig wurde als im gerichtlichen Verfahren. Bei einem solchen Anwaltswechsel hat daher die Anrechnung der Geschäftsgebühr zu unterbleiben. Sinn und Zweck von Vorb. 3 Abs. 4 VV RVG ist es nämlich, die doppelte Honorierung einer (annähernd) gleichen Tätigkeit zu verhindern, wenn der Anwalt die Angelegenheit zunächst als außergerichtliche und später als gerichtliche betreibt und deshalb einen geringeren Einarbeitungs- und Vorbereitungsaufwand für den Rechtsstreit benötigt. Wird aber im Rechtsstreit ein Anwalt tätig, der außergerichtlich noch nicht mit der betreffenden Angelegenheit befasst war und daher auch keinen geringeren Einarbeitungsaufwand hat, so ist eine Anrechnung nicht gerechtfertigt.