Dr. Julia Bettina Onderka, Dr. Michael Pießkalla
Rz. 117
Geht man von einem in jeder Hinsicht unterdurchschnittlichen Verkehrsunfall aus, nämlich einem Unfall mit folgenden Merkmalen:
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Unfallverlauf unstreitig, |
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Schäden eindeutig feststellbar, |
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keine Rückfragen an Gutachter erforderlich, |
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einfaches Anspruchsschreiben an Versicherer, |
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Versicherer erkennt Haftung zu 100 % an, |
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Regulierung erfolgt unproblematisch und innerhalb kurzer Zeit (1 bis 2 Wochen), |
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keine weiteren Probleme des Mandanten (z.B. Differenzbesteuerung, Mietwagen, Totalschaden etc.), |
der höchstens mit einer 0,8 bis 0,9-Geschäftsgebühr abzurechnen sein dürfte, so können weitere Umstände dazu führen, dass der Anwalt eine Gebühr von bis zu 1,3 verlangen kann.
Rz. 118
Eine Gebühr in Höhe von 1,3 kann gefordert werden, wenn ein regelmäßiger und durchschnittlicher Arbeitsumfang vorliegt. Dies ist zu bejahen, wenn:
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ein persönliches oder telefonisches Erstgespräch mit dem Mandanten geführt wird, |
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in diesem Erstgespräch Sachverhalt, Haftungsgrund und Schadenshöhe festgestellt werden, |
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die sich daraus ergebene Beurteilung der Rechtslage erfolgt, |
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der Anwalt die Schadensregulierung steuernde tatsächliche Hinweise oder rechtliche Ratschläge an den Mandanten erteilt, |
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das Anspruchsschreiben an den gegnerischen Haftpflichtversicherer mit der Darlegung von Haftungsgrund und Schadenspositionen mit Dokumentation fertigt, |
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die Reaktion des Haftpflichtversicherers überwacht und dem Mandanten bewertend weiterleitet, |
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seine Vergütung unter Anwendung der Vorschriften des RVG abrechnet und den Vollzug der Vergütungsberechnung überwacht. |
Liegt ein solcher durchschnittlicher Arbeitsumfang vor, ist zu prüfen, ob die Angelegenheit darüber hinaus umfangreich oder schwierig war.
Rz. 119
Ein abschließender Katalog von Umständen, bei deren Vorliegen die Angelegenheit regelmäßig als umfangreich bzw. schwierig einzustufen ist, kann in diesem Zusammenhang sicherlich nicht aufgestellt werden. Dazu ist die anwaltliche Tätigkeit in diesem Bereich zu vielschichtig. Jedoch kann man einen beispielhaften Katalog von Einzelumständen aufstellen, der in der Praxis als Orientierung dient. Solche Einzelumstände können beispielsweise sein:
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Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Geschädigten sowie Bedeutung der Angelegenheit für ihn, insbesondere im Hinblick auf die Höhe des Sachschadens; |
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mehrere Besprechungen mit dem Mandanten oder Besprechungen außerhalb der Bürozeiten; |
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Vertretung mehrerer Geschädigter, bei denen dieselbe gebührenrechtliche Angelegenheit vorliegt; |
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erhöhter Beratungs- und Besprechungsaufwand wegen Unfallflucht des Gegners; |
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schwierige Besprechung mangels Sprachkenntnissen des Mandanten; |
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schwere Verletzungen des Mandanten und Prüfung von Verdienstausfallansprüchen; |
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zusätzlicher Aufwand durch Einziehung von zu Unrecht einbehaltenen Fremdgeldern; |
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zusätzlicher Aufwand durch Korrespondenz mit dem Mietwagenunternehmen; |
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zusätzlicher Aufwand durch Vereinbarung mit dem Gutachter, um Finanzierungsengpass des Mandanten abzuwenden; |
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erforderliche Rücksprache mit Zeugen zum genauen Unfallverlauf; |
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Eingehen auf Einwendungen des Versicherers zu Schadenspositionen; |
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Nachfragen beim Sachverständigen oder Teilnahme an Begutachtung des Fahrzeugs; |
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ungerechtfertigte Kürzung sachverständig geschätzter Beträge, die eine Rückfrage beim Sachverständigen und weitere Korrespondenz erforderlich macht; |
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Termin mit dem Sachverständigen, um Altschäden von Unfallschäden abzugrenzen; |
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vertiefte Befassung mit Schadensersatzrecht einschließlich Rechtsprechungsrecherche; |
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extremer Lebenseinschnitt durch stärksten unfallbedingten Personenschaden, Heilungskomplikationen mit Dauerschaden, weit überdurchschnittliche Gesamtbearbeitungszeit, überlange Bearbeitungszeit mit der Notwendigkeit wiederholten Einarbeitens, nicht regulierender Haftpflichtversicherer, streitiger Haftungsgrund, erforderliche Spezialkenntnisse; |
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gesonderte Ermittlung des Nutzungsausfallschadens mangels Listenwert; |
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Erstattung Gutachterkosten bzw. Totalschaden zu prüfen; |
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ausführliche Erörterung der Sach- und Rechtslage mit dem Sachbearbeiter des Versicherers; |
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Verzögerungsverhalten des gegnerischen Versicherers und dadurch erhöhter Arbeitsaufwand; |
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Verkehrsunfall mit Todesfolge, Prüfung von Schmerzensgeld-, Haushaltsführungs- und Unterhaltsansprüchen. |
Rz. 120
Liegen mehrere dieser Umstände vor, kann eine Geschäftsgebühr in Höhe der Mittelgebühr von 1,5 oder darüber hinaus als angemessen angesehen werden. Die Verwendung von Textbausteinen/Formularschreiben wirkt sich nicht gebührenmindernd aus, da der Aufwand zu berücksichtigen ist, den die Erstellung solcher Textbausteine und die Prüfung ihrer Anwendung im Einzelfall erfordert. Würde man die routinierte und effektive Fallbearbeitung unter Zuhilfenahme von Musterschreiben und Formularen durch niedrigere Gebührenansätze "sanktionieren", bestünde für viele Anwälte wohl kaum Anl...