Rz. 63
Verschiedene Internetportale geben den Nutzern die Möglichkeit – meist anonym – manche nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Arbeitgebers, andere unabhängig von einer solchen Zustimmung, ihren Arbeitgeber, Kollegen und Vorgesetzten zu bewerten. Hinsichtlich der Zulässigkeit der Beteiligung des Arbeitnehmers in solchen Portalen gelten dieselben Grundsätze wie beim Umgang mit vertraulichen Informationen durch den Arbeitnehmer. Der Arbeitnehmer muss sich grundsätzlich so verhalten, dass der Betriebsfrieden nicht ernstlich und schwer gefährdet wird. Unter bestimmten Voraussetzungen ist der Wahrung des Betriebsfriedens sogar Vorrang vor der in Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Meinungsfreiheit des Arbeitnehmers einzuräumen. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit muss jedenfalls dann zurücktreten, wenn sich eine Äußerung im Arbeitgeberbewertungsportal als Formalbeleidigung oder als eine Schmähung darstellt. Kritik von Kollegen bzw. Vorgesetzten ist stets betriebsbezogene Kritik, die zunächst intern zu äußern ist. Es sind daher die betriebsinternen Zuständigkeits- und Verhaltensregeln zu beachten. Darüber hinaus besteht meist eine institutionelle Interessenvertretung der Arbeitnehmer im Betrieb, bei der Kritik gegenüber Vorgesetzten geäußert werden kann. Hieraus folgt die Pflicht, im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren, betriebsbezogene Kritik zunächst intern vorzubringen und mit arbeitsrechtlichen Instrumenten Abhilfe anzustreben. Die Veröffentlichung von Kritik im Internet im Rahmen eines Arbeitgeberbewertungsforums hat die Konsequenz, dass jeder registrierte Benutzer Zugriff auf diese Beurteilungen hat. Es handelt sich somit nicht mehr um interne Abhilfemechanismen. Eine "Flucht in die Öffentlichkeit" ist auch deswegen nicht vom Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt, weil die Öffentlichkeit nicht vom Führungsverhalten einzelner Führungskräfte eines Unternehmens betroffen ist. Die Teilnahme an Arbeitgeberbewertungsforen kann am Arbeitsplatz ausdrücklich untersagt werden. Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates ist hierbei grundsätzlich nicht zu beachten. Da sich die Pflicht, Beurteilungen von Mitarbeitern im Internet zu unterlassen, bereits aus den vertraglichen Nebenpflichten ergibt, handelt es sich bei dem Verbot lediglich um eine Konkretisierung der Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis.
Rz. 64
Im Jahr 2011 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über die Abwägung der Meinungsfreiheit der Arbeitnehmer mit den Unternehmerinteressen des Arbeitgebers zu entscheiden. Im konkreten Fall hatte eine Altenpflegerin Strafanzeige gegen ihren Arbeitgeber wegen Betruges gestellt, da er angeblich Leistungen abrechne, die den Patienten des Altenheimes jedoch nicht gewährt wurden. Die Altenpflegerin war daraufhin fristlos gekündigt worden. Der EGMR stärkte in seiner Entscheidung die Meinungsfreiheit der Arbeitnehmerin und erklärte die Kündigung für unwirksam. Die Meinungsfreiheit der Arbeitnehmerin sei höher zu bewerten als die Sorge des Arbeitgebers um nachteilige Auswirkungen für sein Unternehmen. Dabei rückte der EGMR maßgeblich das öffentliche Interesse an der Meldung der Missstände in den Vordergrund. In einer demokratischen Gesellschaft sei das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der institutionellen Altenpflege so wichtig, dass es gegenüber den Interessen dieses Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsinteressen überwiege. Der Schutz solcher Hinweisgeber (sog. "Whistleblower") ist rechtlich bisher nicht ausreichend konkret umschrieben, sodass die Abgrenzung in der Praxis schwierig sein kann. Diesem Umstand soll in absehbarer Zeit durch ein eigenes Gesetz Abhilfe geleistet werden, das auch der Umsetzung der europäischen Hinweisgeberschutz-Richtlinie (EU) 2019/1937 dienen soll.