Dr. Wolfgang Kürschner, Karl-Hermann Zoll
Rz. 1
Das Unfallhaftpflichtrecht hat für unsere Gesellschaft und in unserem Rechtssystem eine erhebliche praktische Bedeutung. Seine Ausgestaltung und Entwicklung werden mehr als bei vielen anderen Rechtsgebieten von den jeweiligen gesellschaftlichen Wertungen mitgeprägt. Es gibt heute wohl kaum einen Menschen, der im Laufe seines Lebens nicht mehrfach mit der Frage konfrontiert wurde, wer für die Folgen eines Unfalls einzustehen hat. Die zunehmende Technisierung brachte und bringt weiterhin eine Fülle neuer Gefahren mit sich. Damit einher geht eine zunehmende kritische Distanz in großen Teilen der Gesellschaft gegenüber den Errungenschaften technischen Fortschritts. Die Bereitschaft, Unfälle und ihre Folgen als Schicksalsschläge hinzunehmen, ist der Forderung nach hohen Sicherheitsstandards, Gefahrvermeidung und verschuldensunabhängiger Gefährdungshaftung gewichen. Von Gesetzgeber und Rechtsprechung wird gefordert, sich um eine Vervollkommnung des Schadensausgleichs zu bemühen. Einen perfekten Schutz gegen alle möglichen Gefahren des Lebens kann es aber nicht geben. Rechtliche Gesichtspunkte wie Eigenverantwortlichkeit und Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos dürfen auch und gerade in einem optimal ausgestalteten Haftpflichtrecht nicht in Vergessenheit geraten (vgl. dazu auch Rdn 11).
Rz. 2
Die Haftung für Unfallfolgen ist primär Individualhaftung. In wichtigen Lebensbereichen, z.B. bei einem Arbeits- oder Dienstunfall (vgl. dazu auch § 37), wird durch den Eintritt der gesetzlichen Unfallversicherung – also auf sozialversicherungsrechtlichem Weg – unter bestimmten Voraussetzungen (z.B. wenn der Schädiger Unternehmer oder Arbeitskollege ist oder es sich um den Dienstherrn oder Bedienstete handelt und keine vorsätzliche Schädigung vorliegt) die Individualhaftung ganz ersetzt. In anderen Bereichen ist der Abschluss einer Haftpflichtversicherung für potenziell Haftende gesetzliche Pflicht: wichtigstes Beispiel ist der Kraftfahrzeugverkehr; Versicherungspflichten bestehen aber auch für andere gefährliche Bereiche wie Luftverkehr Betreiben kerntechnischer Anlagen (vgl. § 7 Rdn 81 ff.), für Umweltschäden (vgl. § 7 Rdn 1 ff.) oder für die Jagdausübung. Im Übrigen sind freiwillige private, berufs- bzw. geschäftsbezogene Haftpflichtversicherungen verbreitet. So ist das Bild des Haftpflichtprozesses heute weitgehend geprägt durch die Auseinandersetzung mit dem "hinter" dem "Schädiger" im weiteren Sinne stehenden Versicherer. Hier spielt das Schadensmanagement als zum einen unternehmerische Steuerungsaufgabe und zum anderen Schadensbearbeitung im Einzelfall eine wichtige Rolle. Die Versicherungswirtschaft geht davon aus, dass im Bereich des Schadensmanagements erhebliche Potenziale für die Steigerung des Gewinns der Versicherer (durch nachhaltige Senkung der Schadensaufwendungen) bei gleichzeitiger Erhöhung der Kundenorientierung vorhanden sind. Mit Vor- und Nachteilen eines Schadensmanagements durch Versicherer haben sich der 37. Verkehrsgerichtstag (VGT) und speziell beim Personenschaden der 38. und 46. VGT befasst. Wegen der großen Zahl, der Vielgestaltigkeit und der häufig einschneidenden Folgen der sich ereignenden Unfälle, etwa im Straßen-, Bahn-, Luft- oder Schiffsverkehr, durch Verletzung von Verkehrssicherungspflichten oder im Umgang mit gefährlichen Anlagen und im Hinblick auf die unterschiedlichen Rechtsgrundlagen der Haftungstatbestände im Deliktsrecht des BGB, des StVG, im HaftpflG, im LuftVG, im BergG, im ProdHaftG, im UmweltHG und auch in einer Reihe anderer Spezialgesetze ist das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Übersichtlichkeit im Unfallhaftpflichtrecht besonders ausgeprägt. Ziel des vorliegenden Buches "Unfallhaftpflichtrecht" kann daher nicht nur eine – auch mit weiterführenden Hinweisen versehene – Darstellung von Detailfragen sein; vielmehr sind auch die wesentlichen Begriffe für das Verständnis von Haftungsgrundlagen und Einwendungen zu erläutern und als Elemente eines Systems der Unfallregulierung im weiteren Sinne zu beschreiben.
Rz. 3
Ehe Einzelfragen des materiellen Rechts (z.B. der Rechtsgrundlagen der Schadensersatzansprüche – § 2 ff.; zum Schadensersatzbegriff – § 12; zum Erwerbsschaden – § 13 und zum Sachschaden – § 14; zu Ansprüchen Dritter – § 15; zu Heilungskosten und vermehrten Bedürfnissen – § 16; zum Schmerzensgeld – § 17; zu Einwendungen und anderen Reaktionen des Schädigers – §§ 18 ff. und zu verfahrensrechtlichen Fragen – §§ 25 ff. sowie zu dem für die Unfallfolgen sehr wichtigen Sozialversicherungsrecht – § 36 und schließlich zum Beamtenrecht – § 40) behandelt werden, sollen zunächst einführend einige Betrachtungen zum Begriff der Haftpflicht sowie zu deren Anknüpfungspunkt "Unfall" – nicht nur im Rechtssinne, sondern auch als Begriff der Lebenswirklichkeit, der interdisziplinär von Bedeutung ist – angestellt werden. Dabei wird dem Thema Unfallhaftpflichtrecht und Internet Aufmerksamkeit geschenkt. Zudem soll der Blick auch über die Grenzen des nationalen Unfa...