Prof. Dr. Jutta Müller-Lukoschek
I. Bedeutung der Erbfälle mit Auslandsbezug/Relevanz für die beratende Praxis
Rz. 1
Erbfälle mit Auslandsbezug nehmen in der notariellen und anwaltlichen Beratung einen immer breiteren Raum ein, das belegen schon folgende Zahlen:
1. Zahlen für Deutschland
Rz. 2
Im Jahre 1961 lebten ca. 700.000 Ausländer in Deutschland (Alt-Bundesrepublik), das entsprach einem Bevölkerungsanteil von 1,2 Prozent. Zum Jahreswechsel 2011/2012 lebten fast 7 Millionen Ausländer in Deutschland (Gesamtbevölkerung in Deutschland: 81,8 Millionen); das entspricht einem Bevölkerungsanteil von knapp 10 Prozent.
Rz. 3
Pro Jahr ereignen sich ca. 800.000 Erbfälle in Deutschland (im Jahre 2011 sind z.B. 852.328 Personen verstorben); fast jeder zehnte Erbfall in Deutschland weist also schon im Hinblick auf die ausländische Staatsangehörigkeit des Erblassers einen Auslandsbezug auf. Nicht erfasst sind die Erbfälle von deutschen Erblassern, bei denen sich ein Auslandsbezug daraus ergibt, dass sie Vermögen im Ausland hinterlassen haben und/oder im Ausland ihren letzten Wohnsitz hatten.
All diese Fälle sind naturgemäß nicht auf Europa (i.S.d. 28 Mitgliedstaaten der EU) beschränkt; die größte Gruppe der in Deutschland lebenden Ausländer stellen z.B. Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit (knapp 2 Millionen).
2. Zahlen für Europa
Rz. 4
In den 28 Mitgliedstaaten der EU leben insgesamt mehr als 500 Millionen Menschen. Jedes Jahr ereignen sich in der EU ca. 450.000 grenzüberschreitende Erbfälle mit Auslandsbezug, bei denen ein Vermögen von insgesamt ca. 123 Milliarden EUR übertragen wird.
Auch hier geht es nicht allein um die Erbfälle von EU-Bürgern, sondern auch um solche Erbfälle, bei denen z.B. ein Erblasser mit Staatsangehörigkeit eines nicht-EU-Mitgliedstaates (in diesem Sinne also eines Erblassers mit der Staatsangehörigkeit eines Drittstaates) mit Wohnsitz in der EU verstirbt bzw. eines Erblassers mit der Staatsangehörigkeit eines Drittstaates, der aber Vermögen in einem EU Mitgliedstaat hinterlässt.
3. Erbfälle mit Auslandsberührung aus deutscher Sicht
Rz. 5
Erbfälle mit Auslandsbezug sind dabei aus deutscher Sicht nicht etwa nur auf solche Fälle beschränkt, in denen ausländische Erblasser im Inland verstorben sind, sondern ein Erbfall mit Auslandsbezug liegt auch dann vor, wenn z.B. ein deutscher Erblasser Vermögen im Ausland – sei es innerhalb der EU, sei es in einem Drittstaat – hinterlassen hat. Bei diesen Konstellationen stellt sich nicht nur allein die Frage nach der Erbfolge als solcher, sondern es sind auch Fragen hinsichtlich des Nachweises der Erbfolge in einem anderen Land bzw. umgekehrt die Frage der Anerkennung eines ausländischen Erbnachweises im Inland zu klären (wenn z.B. ein ausländischer Erblasser Vermögen in Deutschland hinterlassen hat).
4. Internationale Zuständigkeit
Rz. 6
Es ist auch die Frage der Internationalen Zuständigkeit zu klären: Kann ein deutsches Gericht/ein ausländisches Gericht angerufen werden – welchem Recht unterliegt die Frage der Zuständigkeit des Gerichts?
Soll die Erbschaft z.B. ausgeschlagen werden, muss überlegt werden, nach welchem Recht das zu geschehen hat und vor welchem Gericht (bzw. ob die vorgenommene Ausschlagung auch für den Nachlass gilt, der sich in einem anderen Land befindet).
5. Pflichtteil, Verfügungen von Todes wegen, Ausschlagung
Rz. 7
Auch bei einem internationalen Erbfall geht es daneben häufig um Probleme des Pflichtteilsrechts; zu prüfen ist z.B., ob ausländisches Vermögen für die Berechnung des Pflichtteilsanspruches in den Wert des Gesamtnachlasses einzustellen ist, bzw. welchem Recht überhaupt das Pflichtteilsrecht unterliegt. In diesem Zusammenhang muss naturgemäß zuvor festgestellt werden, ob und wie eine Verfügung von Todes wegen in verschiedenen Staaten wirkt bzw. Wirkung erlangen kann und welche Rechtsfolgen damit verbunden sind. Auch die Frage, wie und wo die Erbschaft ausgeschlagen werden kann, ist zu klären.
II. Grundlegende Fragestellungen bei Erbfällen mit Auslandsbezug für die beratende Praxis
1. Typische Situationen
Rz. 8
Bei einem Fall mit Auslandsbezug stellen sich der rechtsberatenden Praxis (insofern nicht anders als bei einem reinen Inlandsfall) im Wesentlichen zwei unterschiedliche Problemkreise, nämlich die Beratung der Hinterbliebenen bei einem Erbfall (also der Erben, Vermächtnisnehmer, Pflichtteilsberechtigten etc.) einerseits, und die Beratung des Erblassers bei der Planung des Vermögensübergangs auf die Rechtsnachfolger andererseits. Geht es um die Gestaltung, darf den Überlegungen naturgemäß nicht nur das nationale Recht zugrunde gelegt werden, sondern auch das Recht des beteiligten ausländischen Staates (gegebenenfalls auch eine Reihe anderer Rechte – z.B. wenn der Erblasser Vermögen in verschiedenen Ländern hat) muss berücksichtigt werden; zumindest muss der Berater sich darüber im klaren sein, dass ausländisches Recht zur Anwendung gelangen kann.
2. Ausgangspunkt der Überlegungen
Rz. 9
Bei einem internationalen Erbfall sind dabei häufig folgende Fragen zu klären:
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Welches Recht ist aus deutscher Sicht auf den Erbfall anwendbar? |
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Welches Recht is... |