Dr. iur. Alexander Weinbeer
1. Allgemeine Pflichten der Anwälte
Rz. 38
Die in § 1 Abs. 3 BORA zum Programmsatz freier Advokatur erhobene und schon im vorstehenden Abschnitt hervorgehobene Generalpflicht des Anwalts ist auch bestimmend für die Determination der Haupt- und Nebenpflichten aus dem Mandat.
Rz. 39
Indem nämlich der Anwalt zur umfassenden und erschöpfenden Beratung und Belehrung seiner Mandanten unter Beachtung des Gebots des sichersten Weges verpflichtet wird und dies erfordert, auf etwaige Gefahren und Risiken, die dem Mandat innewohnen, hinzuweisen sowie vor voraussehbaren und vermeidbaren Nachteilen, Rechtsverlusten und Fehlentscheidungen durch Gerichte und Behörden zu bewahren, zeigt sich schon im Allgemeinen, dass Anwälte einem engmaschigen Netz umfangreicher Pflichten unterliegen.
Rz. 40
Freilich beschränken sich die anwaltlichen Berufspflichten nicht auf das Vorstehende, weil vor allem nach §§ 43, 43a BRAO, §§ 2 ff. BORA auch allgemeine Berufs- und Grundpflichten, wie anwaltliche Sachlichkeit und Verschwiegenheit, Verbot des Parteiverrats und der Vertretung widerstreitender Interessen oder ordnungsgemäße Verwaltung anvertrauter und unverzügliche Auskehr fremder Gelder, existieren. Die Verletzung dieser Pflichten hat aber vorrangig wegen ihrer straf- und berufsrechtlichen Folgen, etwa nach §§ 203 Abs. 1 Nr. 3, 356 StGB und § 114 BRAO, Bedeutung.
Rz. 41
Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass ein angeblicher – letztlich erst vom BGH verneinter – Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot eine von hier aus betreute Anwältin Haftungsansprüchen in einem existenzvernichtenden Ausmaß ausgesetzt hatte, nachdem ein Landesarbeitsgericht ihrem schriftsätzlichen Vorbringen während des Kündigungsschutzprozesses "schon beleidigenden Charakter" zugemessen und einem Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG stattgegeben hatte.
2. Überblick über die Pflichten für eine ordnungsgemäße Berufsausübung
Rz. 42
Größere Bedeutung für Fragen der Berufshaftung von Anwälten als die Vorschriften zu den allgemeinen Berufspflichten hat § 11 BORA. Danach ist der Rechtsanwalt verpflichtet, das Mandat in angemessener Zeit zu bearbeiten und den Mandanten über alle für den Fortgang der Sache wesentlichen Vorgänge und Maßnahmen unverzüglich zu unterrichten. Der Mandant ist insbesondere über alle wesentlichen erhaltenen oder versandten Schriftstücken in Kenntnis zu setzen.
Rz. 43
In einer Zusammenschau von §§ 1 Abs. 3, 11 BORA lassen sich mit Rücksicht auf die einschlägige Rechtsprechung somit folgende Grundpflichten abstrahieren:
▪ |
Sachverhaltsaufklärung – Relevanzprüfung, |
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Rechtsprüfung, |
▪ |
Beratung und Belehrung, |
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Informationen an Mandanten weitergeben, |
▪ |
Vertretung nach außen – Prozessführung. |
3. Sachverhaltsaufklärung
Rz. 44
Zwar gehört die vollständige und wahrheitsgemäße Erteilung der maßgeblichen Sachverhaltsinformationen und die Überlassung bzw. Mitteilung der zu ihrem Beleg erforderlichen Beweismittel zu den vornehmsten Pflichten der rechtssuchenden Mandanten. Auch mag daraus abgeleitet werden, dass der Rechtsanwalt auf die Richtigkeit und die Vollständigkeit der tatsächlichen Angaben seines Auftraggebers vertrauen darf.
Rz. 45
Den vorstehend formulierten Grundsatz relativiert der BGH aber in der Weise, dass jedenfalls beim unbeschränkten Mandat von Beginn an eine Sachverhaltsaufklärungspflicht des Anwalts besteht und dass vom Anwalt kein Vertrauen in die Richtigkeit und die Vollständigkeit mitgeteilter sog. Rechtstatsachen und rechtlicher Wertungen gesetzt werden kann, da solche Angaben der regelmäßig rechtsunkundigen Mandanten unzuverlässig sind.
Rz. 46
Der Anwalt hat dann die zugrunde liegenden, für die rechtliche Prüfung bedeutsamen Umstände und Vorgänge zu klären, indem er seinen Mandanten unter Berücksichtigung dessen Bildungs- und Verständnishorizont gezielt befragt und von diesem einschlägige Unterlagen erbittet; der BGH nimmt in diesem Zusammenhang einen Anscheinsbeweis der Vermutung richtiger und vollständiger Information durch den Mandanten an.
Rz. 47
Falls den Umständen nach mit Rücksicht auf die – ebenfalls genau zu klärenden – Zielsetzungen des Mandanten für eine zutreffende rechtliche Einordnung die Kenntnis weiterer Tatsachen erforderlich und deren Bedeutung für den Mandanten nicht ohne Weiteres ersichtlich ist, muss sich ein Anwalt um zusätzliche Aufklärung bemühen.
Rz. 48
Wenn die Befragung des Mandanten bzw. die an diesen herangetragene Bitte um weitere Informationen keine zuverlässige Klärung verspricht, ist der Anwalt nach Auffassung des BGH sogar zu weiteren Ermittlungen gehalten, wenn sie erforderlich und zumutbar sind.
Rz. 49
Die schon erwähnten Rechtstatsachen (wie etwa Firmenbezeichnungen und Rechtsformzusätze oder Zustelldaten behördlicher und gerichtlicher Schreiben) darf der Rechtsanwalt nicht ungeprüft vom Mandanten übernehmen. Vielmehr muss er zuverlässige Auskünfte beschaffen, indem er sich den Briefumschlag mit Zustelldatum geben oder – was häufiger infolge des unbedarften Wegwerfens des Umschlags der Fall ist – bei Gerichten und Behörden das genaue Zustelldatum erfragt oder Einsicht in Register und Akten nimmt.
Rz. 50
In der Rech...