Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. Sebastian Krülls
Rz. 17
Obwohl der Koalitionsvertrag die Marschroute für die stärkere Regulierung des Fremdpersonaleinsatzes recht deutlich vorgab, ließ das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) mit der Vorlage eines Gesetzesentwurfes zunächst auf sich warten. Der Grund war die Umsetzung von als vorrangig eingestuften Gesetzesvorhaben, insbesondere die Wiederherstellung der Tarifeinheit durch das Tarifeinheitsgesetz und die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz. Erst am 16.11.2015 stellte die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau Nahles, den ersten Referentenentwurf eines entsprechenden Reformgesetzes vor. Trotz der langen Vorlaufzeit wurde der Entwurf mangels Vereinbarkeit mit dem Koalitionsvertrag recht abrupt im Kanzleramt gestoppt. Mit überraschend direkten Worten erkannte die Kanzlerin die aus der Wirtschaft erfolgte Kritik an und betonte in ihrer Rede am Deutschen Arbeitgebertag in Berlin, dass sie als "Wächterin des Koalitionsvertrages" dafür einstehe, dass keine Reform umgesetzt werde, die über die im Koalitionsvertrag vereinbarten Ziele hinausgehe.
Heftige Kritik erhielt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales insbesondere für den in den Referentenentwurf aufgenommenen Versuch einer erstmaligen Definition des Arbeitnehmerbegriffs in § 611a BGB-RefE-I. Anstatt – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – die wesentlichen durch die Rechtsprechung entwickelten Kriterien für die Grenzziehung zwischen ordnungsgemäßen und missbräuchlichen Fremdpersonaleinsatz gesetzlich niederzulegen, ging der erste Entwurf des § 611a BGB über die Kodifikation der Rechtsprechungsgrundsätze im Sinne eines "Restatements" hinaus. Neben einem zweifelhaften Kriterienkatalog (siehe auch § 2 Rdn 4 f.) sah der Entwurf eine Vermutungsregelung vor, nach der die Arbeitnehmereigenschaft bei Vorliegen der Sozialversicherungspflicht nach § 7a SGB IV vermutet werden sollte (näheres dazu siehe § 4). Selbst diejenigen, die einem Kriterienkatalog sowie einer Vermutungswirkung grundsätzlich positiv gegenüberstanden, kritisierten die konkrete Umsetzung dieser Instrumente im Entwurf. Der Kriterienkatalog sei nicht umfassend genug und die Vermutungswirkung dürfe sich nicht auf die Fälle der Feststellung eines Beschäftigtenverhältnisses durch die Deutsche Rentenversicherung Bund nach § 7a SGB IV beschränken.
Neben dem als Maßnahme gegen den Missbrauch von Werkverträgen gedachten § 611a BGB-E enthielt der Referentenentwurf I weitreichende Änderungen des AÜG. Dazu zählten u.a. die im Koalitionsvertrag vereinbarte Wiedereinführung einer personenbezogenen Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten, die Einschränkung der Abweichungsmöglichkeiten vom Equal Pay Grundsatz (Gleichstellung nach spätestens neun Monaten), das Verbot des Einsatzes von Leiharbeitnehmern als Streikbrecher sowie die Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern bei den Schwellenwerten des BetrVG und der Unternehmensmitbestimmung. Eine über 18 Monate hinausgehende Überlassung sollte bereits nach dem Referentenentwurf nur durch Tarifvertrag des Einsatzbetriebes, durch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen, die auf einen entsprechenden Tarifvertrag Bezug nehmen, oder durch Kollektivvereinbarungen von Religionsgemeinschaften vereinbart werden können. Die Forderung, die verdeckte Arbeitnehmerüberlassung zu bekämpfen, wurde im Entwurf durch eine weitreichende Denominationspflicht, die erweiterte Fiktion eines Arbeitsverhältnisses mit dem Auftraggeber sowie ein damit korrespondierendes Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers (sog. Festhaltenserklärung) umgesetzt. Ferner enthielt der Entwurf eine Definition des Leiharbeitnehmerbegriffs in § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG und ein Verbot der von der Praxis bereits zuvor als unzulässig eingestuften sog. Kettenleiharbeitsverhältnisse (näheres zu den einzelnen Änderungen des AÜG in § 5).