Prof. Dr. Martin Henssler, Dr. Sebastian Krülls
Rz. 7
Die Hartz-Reformen stimulierten ein erhebliches Wachstum der Zeitarbeitsbranche. Während 2003 noch rund 282.000 Leiharbeitnehmer in Deutschland eingesetzt wurden, waren es 2010 bereits doppelt so viele. Der zur Kompensation der neu geschaffenen Freiräume eingeführte Gleichstellungsgrundsatz erreichte das angestrebte Ziel eines angemessenen Schutzes der Zeitarbeitnehmer hingegen nur begrenzt. Der als tarifdispositiv ausgestaltete Grundsatz wurde faktisch in sein Gegenteil verkehrt, die auf tarifliche Regelungen gestützte Abweichung wurde zum in der Praxis gelebten Standard. Neben Branchentarifverträgen der dominierenden Tarifgemeinschaften schlossen Gewerkschaften mit Unternehmen auch zahlreiche Haustarifverträge für die Leiharbeitnehmer ab, mit denen gegenüber der Stammbelegschaft verschlechterte Arbeitsbedingungen bzw. geringere Löhne durchgesetzt wurden. Tarifliche Löhne für Anlerntätigkeiten bzw. einfache Helfertätigkeiten lagen 2008 bei nur 55 % des Lohns, die ein Stammarbeitnehmer erhielt. Auch bei qualifizierteren Verwaltungs- und Bürotätigkeiten (Ausbildungsberufen) ergab sich eine Differenz von immerhin 35 % zum Normallohn. In konkreten Zahlen ausgedrückt hat ein Helfer in der Metallbranche 2008 in der niedrigsten Entgeltstufe 12,02 EUR/Std erhalten, während er als Leiharbeitnehmer rund 7 EUR erhielt. Die Stundenentgelte der Zeitarbeitsbranche lagen damit deutlich unter den tariflichen Branchenmindestlöhnen.
Rz. 8
Der politische Handlungsbedarf zur großen AÜG-Reform des Jahres 2011 ergab sich maßgeblich aus dem geschilderten Trend zu einem "Lohndumping". Medialer Aufhänger und Synonym für branchenübergreifende Fehlentwicklungen wurde der "Fall Schlecker". Die Presse nahm dies zum Anlass von der "Schlecker-Methode" zu sprechen. Das Prinzip war einfach: Das Unternehmen Schlecker gründete eine Zeitarbeitsfirma, kündigte seinen Angestellten und stellte diese mit Hilfe der Zeitarbeitsfirma als Leiharbeitnehmer zu einem niedrigeren Stundenlohn wieder ein. Diese als "Drehtürklausel" bekannte Taktik war der Anlass für eine Neuregelung, nach der abweichende Arbeitsbedingungen bzw. Abweichungen vom Equal Pay Grundsatz ausgeschlossen waren, soweit der Leiharbeitnehmer in den letzten sechs Monaten vor der Überlassung aus einem Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher oder aus einem Arbeitsverhältnis mit einem nach § 18 AktG konzernverbundenen Arbeitgeber ausgeschieden war (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 AÜG in der bis zum 31.3.2017 geltenden Fassung). Die zum 1.4.2017 in Kraft getretene Neuregelung behält diese Drehtürklausel in § 8 Abs. 3 AÜG in erweiterter Form bei.
Rz. 9
Weitere Anlässe für die Reform des Jahres 2011 waren die anstehende Umsetzung der europäischen Richtlinie 2008/104/EG bis zum 5.12.2011 sowie der Umstand, dass die bereits 2004 der EU beigetretenen osteuropäischen Mitgliedstaaten zum 1.5.2011 die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit erhalten hatten. Man befürchtete einen weiteren Lohnverfall durch massiven Anwuchs der Entsendung von osteuropäischen Billigarbeitskräften nach Deutschland. Im Wesentlichen sollte mit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes der missbräuchliche Einsatz der Zeitarbeit durch
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die Erweiterung der bisher auf gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung beschränkten Erlaubnispflicht auf alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, |
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das Erfordernis einer nur "vorübergehenden" Überlassung, |
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das als "Drehtürklausel" bekannte Gebot der Gleichstellung, soweit der Zeitarbeitnehmer in den letzten sechs Monaten vor der Überlassung in einem Arbeitsverhältnis zum Entleiher oder einem konzernangehörigen Arbeitgeber stand, sowie |
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die Einführung eines durch Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erstreckten tariflichen Mindestlohns als Lohnuntergrenze (§ 3a AÜG) |
verhindert werden. Die ersten beiden Maßnahmen dienten der Umsetzung der Leiharbeitsrichtlinie. Für die Anwendung des AÜG ist seither nicht mehr erforderlich, dass das verleihende Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht tätig wird. Vielmehr fällt nun auch die früher beliebte Methode der Überlassung von Personal "zum Selbstkostenpreis" unter das AÜG. Das bis dahin geltende Privileg des erlaubnisfreien konzerninternen Verleihs (§ 1 Abs. Nr. 2 AÜG) wurde aufgehoben, soweit Zweck des Verleihunternehmens allein die Überlassung von Personal ist. Im Übrigen gilt allerdings bis heute das in § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG verankerte Konzernprivileg (siehe § 5 Rdn 6 f.).
Rz. 10
Die Übernahme der Begrifflichkeit "vorübergehend" sollte nach Auffassung des Gesetzgebers nur "klarstellende" Bedeutung haben. So sei die Arbeitnehmerüberlassung von ihrer Konzeption her schon nicht auf Dauer angelegt. Allerdings wurde bereits im Rahmen der damaligen Reform diskutiert, welche Folgen die Einfügung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs nach sich ziehen würde. Zu den offenen Fragen zählte: Was soll "vorübergehend" bedeuten, wenn keine konkrete Höchstüberlassungsdauer gelten soll? Meint "vorübergehend" einen kal...