Rz. 55
Im Sozialrecht gilt der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe. Demnach sind Sozialhilfeleistungen von staatlicher Seite stets subsidiär und erst nach Ausschöpfung aller sonstigen Möglichkeiten statthaft (vgl. § 2 Abs. 1 SGB XII) und sie sollen letztlich nur dem Hilfsbedürftigen höchstselbst zuwachsen. Die Vorschrift des § 102 SGB XII wurde geschaffen mit der Erwägung, es könne nicht gerechtfertigt sein, mittelbar den unter Umständen gar nicht hilfsbedürftigen Erben des Hilfeempfängers zulasten der Allgemeinheit zu begünstigen. Würde der Erbe von ihm zufallendem Vermögen, das zu Lebzeiten des Erblassers zum persönlichen Schutz dessen Lebensgrundlagen bei der Bemessung der Sozialleistungen geschont wurde i.S.v. § 90 Abs. 2 SGB XII, nach Wegfall dieses Schutzzwecks mit dem Tod des Erblassers profitieren, so würde diese Schonung ohne rechtfertigenden Grund als Erbenschutzvorschrift auf die Erben nachwirken und damit die ratio der Schonvermögensregeln des § 90 SGB XII überschießen. Schonvermögen ist nur geschützt, solange die bedürftige Person bzw. Einsatzgemeinschaft lebt. Die Vorschrift in § 102 Abs. 2 S. 2 SGB XII konkretisiert mithin den Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe und ordnet zur Verwirklichung dessen ausnahmsweise an, dass der Sozialhilfeträger auf rechtmäßig gewährte Leistungen zurückgreifen kann.
Rz. 56
Vor diesen Wertungen des Sozialrechts ergibt sich damit hinsichtlich des Rückanforderungsanspruchs des Sozialhilfeträgers eine Haftungssituation, die nicht mit dem gegenständlichen Rückgriff auf die Nachlassgegenstände ihr Bewenden haben soll. Bezogene Sozialhilfen sind zurückzugewähren; dies gilt unbeschadet etwaiger Versuche des Erben, die Nachlassgegenstände zu verwerten, um sie dadurch einer Haftung zu entziehen. Die Haftungsbeschränkung ist nicht gegenständlich, sondern wertmäßig zu verstehen.
Rz. 57
Der Erbenbegriff und die Wertberechnung des haftenden Nachlasses im Rahmen des § 102 Abs. 2 S. 2 SGB XII richtet sich nach bürgerlichen bzw. erbrechtlichen Vorschriften (§§ 1922 ff., 2311 BGB). Es kann kein Anlass bestehen, den in § 102 SGB XII verwendeten Begriffen "Erbe" und "Wert des Nachlasses" eine andere, spezifisch sozialrechtliche Bedeutung beizulegen. Die wertmäßige Nachlasshaftung ist demnach begrenzt auf das dem Erben angefallene Aktivvermögen im Zeitpunkt des Erbfalls abzüglich der Passiva bzw. Nachlassverbindlichkeiten, wobei auch der o.g. Freibetrag nach § 102 Abs. 3 SGB XII abzuziehen ist.
Rz. 58
Für die Aktiva anzusetzen ist nicht nur der sich aus einer ordnungsgemäßen Nutzung ergebende Wert, sondern der Verkehrswert. Insbesondere sind anzusetzen bewegliches Vermögen, Grundstücke und Immobilien, Barvermögen und Wertpapiere, Forderungen sowie Beteiligungen. Zu den abzugsfähigen Passiva zählen Erblasserschulden sowie Erbfallschulden. Nicht in die Passiva einzubeziehen ist die Ersatzforderung aus § 102 SGB XII selbst, dient die Wertberechnung doch gerade der Ermittlung des Erbenhaftungsumfangs im Rahmen des § 102 SGB XII. Zwar gehört die Ersatzforderung ebenfalls zu den Nachlassverbindlichkeiten, vgl. § 102 Abs. 2 S. 1 SGB XII, allerdings darf sie erst und nur insoweit geltend gemacht werden, als ein die Freibeträge übersteigender Nachlasswert vorhanden ist.
Rz. 59
Hingegen als Passiva bei Berechnung des Nachlasswerts (zugunsten des Erben) abzugsfähig sind (titulierte) Verbindlichkeiten, die dem Sozialleistungsberechtigten oder einer nach § 19 Abs. 3 SGB einstandspflichtigen Person dadurch entstanden sind, dass diese/r seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen ist.
Rz. 60
Zwar mag erwogen werden, den Sozialleistungsberechtigten diese Kosten vom Nachlasswert abziehen zu lassen, sei bei Berücksichtigung des sozialhilferechtlichen Regelungszusammenhangs (Nachranggrundsatz) und der Wertung des § 102 SGB XII unbillig, da er dadurch faktisch gegenüber denjenigen, die ihren Zahlungsverpflichtungen nachgekommen sind, sowie mittelbar gegenüber der Allgemeinheit privilegiert werde. Der § 102 SGB XII diene gerade dazu, einen umfassenden Rückgriff des Sozialhilfeträgers in Situationen zu ermöglichen, in denen es unbillig wäre, die Solidargemeinschaft endgültig für Sozialhilfeleistungen aufkommen zu lassen; eine Nichtberücksichtigung bzw. Nachrang des Anspruchs aus § 102 SGB XII könne der Solidargemeinschaft nicht zugemutet werden.
Rz. 61
Dies verkennt jedoch die Bedeutung des Nachranggrundsatzes. Die zur Wertbestimmung maßgeblichen bürgerlich-rechtlichen Vorschriften nehmen keinerlei Differenzierung nach dem Entstehungsgrund einzelner Vermögenspositionen vor, sodass grundsätzlich alle Nachlassverbindlichkeiten als abzugsfähige Passiva bei der Nachlasswertbestimmung Berücksichtigung finden müssen. Ausweislich des § 1967 Abs. 2 BGB zählen zu diesen insbesondere (jegliche) vom Erblasser herrührende Schulden. Die Schaffung eines derartigen ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der Billigkeit in einer Eingriffsnorm wie § 102 ...