Rz. 63
Nach bürgerlich-rechtlichen Gesichtspunkten werden alle Nachlassverbindlichkeiten im Grundsatz gleichberechtigt behandelt, sofern diese vom Nachlass vollständig befriedigt werden können, ohne dass eine Unterscheidung nach dem Entstehungsgrund der einzelnen Vermögenspositionen erfolgt. Allerdings ist, wenn der Kostenersatzanspruch aus § 102 Abs. 1 S. 1 SGB XII im Raum steht, zu berücksichtigen, dass nicht alle in § 1967 Abs. 2 BGB genannten Nachlassverbindlichkeiten, namentlich nicht Pflichtteilsansprüche, Vermächtnisansprüche und Auflagen, bei der Nachlasswertermittlung im Rahmen des § 102 SGB XII vorgehen und als abzuziehende Passivposten zu berücksichtigen sind, sondern es ist ein Rangverhältnis zu beachten: Da Pflichtteilsrechte der Disposition des Erblassers durch Verfügungen von Todes wegen gerade entzogen sein sollen, darf der Pflichtteilsberechtigte Befriedigung erst und nur aus dem schuldenfreien Nachlass verlangen und geht anderen Gläubigern nach. Selbiges gilt für Ansprüche aus Vermächtnissen und Auflagen.
Rz. 64
Der sozialrechtliche Erstattungsanspruch aus § 102 SGB XII als ebenfalls sonstige Nachlassverbindlichkeit i.S.v. § 1967 Abs. 2 BGB ist damit zwar grundsätzlich nachrangig gegenüber allgemeinen Nachlassverbindlichkeiten, allerdings vorrangig gegenüber Pflichtteilsansprüchen, Vermächtnisansprüchen und Auflagen. Denn andernfalls könnte der Erblasser den staatlichen Regress dadurch umgehen, dass er großzügige Vermächtnisse einrichtet und auf diese Weise das Aktivvermögen des Nachlasses durch Ausbringung senken würde. Dies widerspräche den dargelegten Grundsätzen zu Sinn und Zweck der Sozialhilfe und ihrer Rückgewähr.
Rz. 65
In der Zusammenschau mit der nicht nur gegenständlich, sondern wertmäßig beschränkten Haftung kann der Erbe damit unter Umständen trotz der Begrenzung seiner Haftung auf den Nachlasswert bei einem auf den ersten Blick nicht überschuldeten Nachlass dennoch mit seinem Privatvermögen einstehen müssen: Verkauft er beispielsweise sein geerbtes Haus, um von diesem Erlös einen Vermächtnisanspruch zu bedienen und macht der Sozialhilfeträger sodann den Ersatzanspruch aus § 102 Abs. 1 S. 1 SGB XII geltend, ist der Erbe gehalten, die Ersatzforderung anderweitig (aus seinem Eigenvermögen) aufzubringen. Der Erbe kann sich in Ansehung dieser Forderung nunmehr nicht auf erbrechtliche Haftungsbeschränkungen nach §§ 1975 ff. BGB berufen, da die Haftungsbegrenzungsregelung in § 102 Abs. 2 S. 1 SGB XII diesbezüglich eigenständig und abschließend sein soll. Sind neben Ansprüchen des Sozialhilfeträgers andere Nachlassverbindlichkeiten vorhanden, bei denen keine Haftungsbeschränkung kraft Gesetzes besteht, die zusammengenommen den Wert des Nachlasses übersteigen, ist es daher tunlich, möglichst alsbald Maßnahmen zur erbrechtlichen Haftungsbeschränkung zu prüfen. Ist eine Erbausschlagung noch möglich, so ist diese nicht sittenwidrig, wenn sie zur Vermeidung der Kostenersatzpflicht aus § 102 Abs. 1 S. 1 SGB XII dient.
Rz. 66
Vor der Dogmatik des Erbrechts ist die Haftungsbeschränkung in § 102 Abs. 2 S. 2 SGB XII für den sozialrechtlichen Erstattungsanspruch auf den Nachlasswert im Zeitpunkt des Erbfalls als Durchbrechung der im Grundsatz unbeschränkten, aber gegenständlich auf den Nachlass beschränkbaren Nachlasshaftung des Erben zu sehen. Die eigenständige Haftungsbeschränkung in § 102 Abs. 2 S. 2 SGB XII stellt sich aus zivilrechtlicher Perspektive als sozialrechtliche Anomalie (pro-hiribus-hereditatis-Haftung) dar, die sich über zivilrechtliche Haftungsprinzipien hinwegsetzt. Die Einführung dieser Sonderhaftungsbeschränkung durch den SGB-Gesetzgeber ist nicht mit der Erwägung zu rechtfertigen, dem Erben eine vereinfachte Haftungsbeschränkung zu bieten, ohne dessen Schutz zu beeinträchtigen, denn sie bietet dem Erben in Fällen, in denen der Aktivbestand des Nachlasses zwischen dem Zeitpunkt des Erbfalls und der Durchführung der Haftungsbeschränkung abnimmt, gerade keinen Schutz. Während der Erbe nach zivilrechtlichen Haftungsprinzipien, die maßgebend sein müssen, für Nachlassverbindlichkeiten grundsätzlich (nur) mit der Haftungsmasse haftet, die der Nachlassinsolvenzverwalter durch die Verwertung der Nachlassgegenstände tatsächlich erzielt, hat der Erbe für die sozialrechtliche Kostenersatzforderung auch mit seinem Eigenvermögen einzustehen, wenn die Nachlassmasse seit dem Erbfall einen Wertverlust erfahren hat und der Anspruch aus § 102 SGB XII nicht mehr aus der verwerteten Masse zu decken ist, selbst wenn der Erbe noch beschränkbar haftet. Dadurch, dass die Haftung im Sonderhaftungsregime des § 102 SGB XII nicht gegenständlich, sondern rechnerisch-wertmäßig beschränkt ist, läuft der intendierte Schutz des Erben ins Leere; der Erbe trägt die Unsicherheiten der Wertfeststellung auf den Zeitpunkt des Erbfalls.
Rz. 67
Wenngleich die Rechtsprechung § 102 SGB XII bisweilen auch als gegenständlich auf den Nachlass beschränkte Haftung auslegt,