Rz. 61
War mit der Sitztheorie die weit gehende Beibehaltung inländischer Schutzmechanismen durch die weite Qualifikation des Begriffs des Gesellschaftsstatuts gewährleistet (Flucht in das Gesellschaftsstatut), drehte sich dieses Verhältnis durch die partielle Geltung des Gründungsstatuts nun um: Da die Geltung der Gründungstheorie nun das Eindringen ausländischer Gesellschaften in den inländischen Rechtsverkehr unter Anerkennung des ausländischen Gesellschaftsstatuts mit sich bringt, ist nun genauer zu differenzieren, um inländische "Schutzstandards" zu wahren. Viele Gerichte sind versucht, den gegenständlichen Geltungsbereich des Gesellschaftsstatuts nun eng zu interpretieren und vor allem solche Vorschriften, die dem Schutz und den Interessen an der Gesellschaft nicht beteiligter Dritter dienen, solchen Kollisionsnormen zuzuweisen, deren Anknüpfungspunkte bei hauptsächlich im Inland tätigen Gesellschaften zur Geltung deutschen Rechts führen ("Flucht aus dem Gesellschaftsstatut"). Dies betrifft insbesondere den für das Deliktsrecht maßgeblichen Tatort (Art. 4 Rom II-VO), die für das Insolvenzstatut maßgebliche lex fori concursus (Art. 4 Abs. 1 Insolvenzrichtlinie) und die im Arbeitsrecht verwandte Belegenheit des Betriebs etc.
Rz. 62
Freilich haben solche Bestrebungen für den Geltungsbereich der Niederlassungsfreiheit durch die Entscheidung des EuGH in Inspire Art einen Dämpfer erhalten. Dort stand ein niederländisches Gesetz auf dem Prüfstand, welches für ausländische Gesellschaften mit tatsächlichem Sitz in den Niederlanden eine Reihe von Sonderregelungen enthielt. Die persönliche gesamtschuldnerische Haftung der Geschäftsführer für den Fall, dass die Gesellschaft ihren (richtlinienkonform angeordneten) Offenlegungspflichten nicht nachkommt, billigte der EuGH noch unter dem Vorbehalt, dass diese Regelung die Gesellschaft nicht gegenüber niederländischen Gesellschaften benachteiligt. Das Erfordernis der ausdrücklichen Firmierung als "formal ausländische Gesellschaft" aber verstieß nach Ansicht des EuGH gegen die Zweigniederlassungsrichtlinie, welche die Offenlegungspflichten abschließend bestimme. Ebenso verstoße die Pflicht zur Anmeldung in der Zweigniederlassungsrichtlinie nicht genannter Informationen, wie über den Alleingesellschafter der Gesellschaft, gegen die Niederlassungsfreiheit. Das Gleiche gelte für die Verpflichtung zur Vorlage einer Erklärung von Wirtschaftsprüfern, dass die Gesellschaft bezüglich des eingezahlten Mindestkapitals die Voraussetzungen erfülle und die Erstreckung der Bestimmungen des niederländischen Rechts über das Mindeststammkapital und die Haftung der Geschäftsführer auf diese Gesellschaft.
Rz. 63
Die – im konkreten Fall klagende englische – Gesellschaft könne sich auch dann auf die Niederlassungsfreiheit berufen, wenn sie nur deshalb in England gegründet worden sei, um die strengeren Gründungsvorschriften des niederländischen Rechts zu umgehen. Ausnahmsweise könne ein Eingriff in die Niederlassungsfreiheit aber gerechtfertigt sein, wenn folgende vier Voraussetzungen erfüllt seien (Vier-Konditionen-Test):
1. |
Die Beschränkungen müssen in nicht diskriminierender Weise angewandt werden, |
2. |
sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, |
3. |
sie müssen zur Erreichung des verfolgten Zieles erforderlich sein und |
4. |
sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. |
Dieser Vier-Konditionen Test führt dazu, dass auch bei Zuordnung gewisser Vorschriften aus dem Gesellschaftsrecht hinaus in solche Rechtsgebiete, die regelmäßig dem Bereich der allgemeinen Verkehrsvorschriften angehören (wie z.B. dem Vertrags- und Deliktsrecht), das Ergebnis jedenfalls darauf hin zu prüfen ist, ob es die Niederlassungsfreiheit berührt und ob es nach dem Vier-Konditionen-Test gerechtfertigt ist. Dadurch, dass eine bestimmte Regelung hastig aus dem Bereich des Gesellschaftsrechts zum Delikts- oder Insolvenzrecht "umetikettiert" wird, lässt sich also die Europäische Gründungstheorie nicht aushebeln.