1. Kollisionsrechtliche Behandlung der Durchgriffshaftung
Rz. 88
Einer der rechtspolitisch sensibelsten und in der Literatur daher am heißesten "umkämpften" Bereiche der Qualifikation des internationalen Gesellschaftsrechts ist die Frage, ob für einzelne Haftungs- und Durchgriffstatbestände vom Gesellschaftsstatut abweichende "Sonderanknüpfungen" möglich sind. Hierbei haben gerade nach dem Aufkommen der ersten "Limited-Welle" einige auf den Schutz des inländischen Rechtsverkehrs bedachte Autoren diverse Haftungstatbestände dem Gesellschaftsstatut entnommen und dem Anwendungsbereich anderer Kollisionsnormen zugeführt, also z.B. dem Deliktsstatut oder dem Insolvenzstatut unterstellt. Bei einer faktischen Inlandsgesellschaft ergab sich daraus die Möglichkeit, aufgrund Handelns im Inland wegen inländischen Tatorts über Art. 40 EGBGB (jetzt: Art. 4 Rom II-VO) bzw. bei Konkurseröffnung im Inland das deutsche Recht als lex fori concursi (Art. 4 EuInsVO) zur Anwendung zu bringen.
Rz. 89
Dabei ist man sich wohl weiterhin einig, dass Mindestkapital, Kapitalaufbringung und auch Kapitalerhaltung weiterhin (ausschließlich) dem Gesellschaftsstatut unterstehen. Freilich sollte man m.E. hier nicht durch eine rechtspolitisch bedingte beliebige Zuweisung einzelner Rechtsfragen zu unterschiedlichen Kollisionsnormen logische Zusammenhänge zerreißen und zusammengehörende Regelungsbereiche unterschiedlichen Rechtsordnungen zuweisen. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, dass durch die vom Gesellschaftsstatut abweichende Qualifikation schließlich auch der Anwendungsbereich des ausländischen Rechts beeinträchtigt wird. So würden ggf. sich schon aus dem ausländischen Gesellschaftsstatut ergebende einschlägige Schutzvorschriften bei der im Inland tätigen Gesellschaft von der Regelung dieser Frage durch das deutsche Recht verdrängt werden. Letzterem Mangel will man vielfach durch eine sog. Doppelqualifikation abhelfen: Es sollen die durch die Sonderanknüpfung ermittelten Vorschriften neben die des Gesellschaftsstatuts treten.
Rz. 90
Freilich stellt die "Doppelqualifikation" ein methodisch umstrittenes kollisionsrechtliches Instrument dar, das häufig mehr verschleiert als klärt und die Probleme letztlich nur von der Ebene der kollisionsrechtlichen auf die materiell-rechtliche Ebene verschiebt. Daher wird zumindest auf der Ebene des allgemeinen Kollisionsrechts allgemein angenommen, dass diese Figur nur dann zum Einsatz gelangen soll, wenn eine eindeutige Qualifikation schon aus "technischen Gründen" ausscheidet. Nicht vergessen werden darf nämlich, dass die Doppelqualifikation zur parallelen Berufung mehrerer Rechtsordnungen auf dieselbe Frage und damit zu schwierig aufzulösenden Konkurrenzen (Normenfülle) führen kann. Schon aus diesem Grunde sollte vor einem voreiligen Ausweichen auf eine Mehrfachqualifikation sorgfältig geprüft werden, ob diese tatsächlich unvermeidlich ist oder nicht nur aus "politischen Gründen" angestrebt wird.
2. Haftung aus Insolvenzverschleppung
Rz. 91
Die Haftung der Gesellschafter und der Geschäftsführer unterliegt grundsätzlich dem Gesellschaftsstatut. Insoweit könnte man das Gleiche auch für die Haftung aus Insolvenzverschleppung denken. Freilich ergibt sich hier ein markanter Differenzierungsgrund: Die Haftung der Gesellschafter und Geschäftsführer wird deswegen dem Gesellschaftsstatut unterstellt, weil auch die gesellschaftsrechtlichen Pflichten dieser Personen sich aus dem Gesellschaftsstatut ergeben. Zum einen ist es konsequent, dem Recht, das die Verpflichtung und den Sorgfaltsmaßstab für diese Personen bestimmt, auch die Sanktion der Verletzung einer dieser Verpflichtungen zu entnehmen. Zum anderen soll sich keine Sanktion ergeben, wo keine entsprechende Verpflichtung verletzt worden ist. Die Verpflichtung zur Stellung des Insolvenzantrags ergibt sich freilich nicht aus dem Gesellschaftsrecht, sondern aus dem Insolvenzrecht. Dieses stellt z.B. den Insolvenzgrund fest, wann der Schuldner den Antrag stellen kann und wann er zur Antragstellung verpflichtet ist. Damit hat auch die Haftung wegen Insolvenzverschleppung ihren Ursprung im Insolvenzrecht. Sie unterliegt daher nach überwiegender Auffassung dem Insolvenzstatut. Der deutsche Gesetzgeber hat dies nunmehr klargestellt, indem er die Haftung für Insolvenzverschleppung nicht mehr im GmbHG geregelt hat, sondern in die InsO überführt hat. Insolvenzstatut ist wiederum gem. Art. 7 Abs. 1 EuInsVO die lex fori concursus, also die Rechtsordnung, die für das Gericht gilt, das das Insolvenzverfahren eröffnet hat.
Rz. 92
Die Fra...