1. Vorbemerkung
Rz. 100
Aus heutiger Sicht sind wesentliche Defizite der historischen Grundlagen des Wohnungseigentumsrechtes erst nach und nach durch die Rechtsprechung beseitigt worden. Auch eine stärkere wissenschaftliche Durchdringung des Wohnungseigentumsrechtes ist frühestens seit den 1990er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu verzeichnen. Viele gerichtliche Einzelfallentscheidungen und literarische Äußerungen aus der Zeit davor sind entweder überholt, falsch oder irreführend.
2. Beispiele
a) Abgrenzung Gemeinschafts-/Sondereigentum
Rz. 101
(Vgl. Rdn 41). Klarheit hinsichtlich der zulässigen Eigentumsverhältnisse an Außentüren und -fenstern sowie Ver- und Entsorgungsleitungen hat erst eine Reihe von BGH-Entscheidungen geschaffen (m.w.N. vgl. § 3 Rdn 11). Auf deren Grundlage sind die meisten diesbezüglichen Abgrenzungskataloge (vgl. Rdn 41) in grundbuchlich vollzogenen Teilungserklärungen, älteren Formularbüchern und Kommentierungen nichtig bzw. falsch. Im Grundsatz gilt jetzt: Außenanschlüsse sind zwingendes Gemeinschaftseigentum, Versorgungsleitungen/Entsorgungsleitungen, die sich im Bereich des Sondereigentums befinden, ab bzw. bis zu der ersten zur Handhabung durch den Sondereigentümer vorgesehenen Absperrmöglichkeit können zu Sondereigentum erklärt werden (näher m.w.N. vgl. § 3 Rdn 11 f.). Obschon damit nicht alle Detailprobleme geklärt sind, ergibt sich für die Praxis eine zu begrüßende Rechtsklarheit.
b) Nutzungsangaben in Plänen
Rz. 102
In den von Architekten erstellten Bauantragsplänen für Neubauten sind regelmäßig Nutzungsangaben enthalten ("Laden", "Restaurant", "Wohnung", "Abstellraum" usw.). Bei der Aufteilung von Altbauten werden gerne die seinerzeitigen Bauantragspläne verwandt, die den heutigen soziokulturellen und technischen Randbedingungen nicht mehr entsprechen ("Kohlelager", "Kartoffelkeller", "Kutscherhaus", "Speicher" etc.). Teils werden solche Beschreibungen dann auch noch in den Text der Teilungserklärung und Gemeinschaftsordnung übernommen ("Teileigentum, Laden"). Solche Bezeichnungen haben die Gerichte in Hunderten von Entscheidungen beschäftigt. Mit der Zweckbestimmung "Laden" und den daraus möglicherweise folgenden Einschränkungen für die Nutzbarkeit der betroffenen Teileigentumseinheiten hat sich der BGH allein im Jahr 2019 in drei Entscheidungen befassen müssen. Auch heute noch gibt es keinen größeren WEG-Kommentar ohne eine diesbezügliche umfängliche ABC-Liste. Der Bundesgerichtshof hat erst ab Beginn des Jahres 2010 in einer Reihe von Entscheidungen für eine gewisse Justizentlastung der Instanzgerichte gesorgt. Eintragungen des planenden Architekten in den Genehmigungsplänen kommt i.d.R. nicht dadurch die Bedeutung einer Zweckbestimmung mit Vereinbarungscharakter zu, dass diese Pläne für den Aufteilungsplan genutzt werden. Die Bezeichnung "Laden" sei im Zweifel als deklaratorische Wiedergabe der Erstnutzung zu verstehen und decke auch den anschließenden Betrieb einer "Speisegaststätte". Man kann aus diesen Entscheidungen einen gewissen Paradigmenwechsel ableiteten, aber verlassen sollte man sich darauf besser nicht.
Praxistipp
Vorsicht, Vorsicht und nochmals Vorsicht bei konkreten Nutzungsangaben.
Zweckbestimmungen hinsichtlich der gewerblichen Nutzung sollten unter Abwägung der Bestandsinteressen der Erwerber und der nötigen Offenheit für künftige Veränderungen sorgfältig formuliert werden. Insbesondere Art und Lage der jeweiligen Wohnungseigentumsanlage sind hierbei maßgebliche Kriterien. Immer ist im Blick zu haben, dass sog. Versteinerungen möglichst vermieden werden.
c) Zitterbeschlüsse
Rz. 103
Bis zu der sogenannten "Jahrhundertentscheidung" des BGH vom 20.9.2000 ging die ganz h.M. und Praxis davon aus, dass formal ordnungsgemäße Beschlüsse nach Ablauf der Anfechtungsmonatsfrist des § 23 Abs. 4 WEG a.F. in Bestandskraft erwachsen, und zwar auch dann, wenn Sie vereinbarungs- bzw. gesetzesändernden oder -ersetzenden Charakter hatten. Das ermöglichte insbesondere bei Großanlagen, bei denen die einvernehmliche Mitwirkung aller Eigentümer so gut wie nie zu erreichen ist, flexible und kostengünstige Anpassungen der Gemeinschaftsordnung. Es musste eben nur einen Monat "gezittert" werden. Der BGH entschied hingegen: Allein solche Beschlüsse können in Bestandskraft e...