Rz. 50
Ein besonderes Problem stellt für die Gesamtheit der Gläubiger die Einziehung von Kleinforderungen dar. Dieses Problem hat der Gesetzgeber in einer einseitigen Interessenabwägung durch das Gesetz zur Verbesserung des Verbraucherschutzes im Inkassorecht durch eine Absenkung des Gebührenwertes bei Forderungen bis 50 EUR von 40 EUR auf 30 EUR bei gleichzeitiger Reduzierung der Geschäftsgebühr von einem 0,5–2,5-Gebührenrahmen mit einer Schwellengebühr von 1,3 auf einen 0,5–1,3-Gebührenrahmen mit einer Schwellengebühr von 0,9 nachhaltig verschärft.
Einerseits übersteigen die Aufwendungen für die Forderungseinziehung sehr schnell die Höhe der Hauptforderung, was deren Einziehung psychologisch erschwert und Kritik von außen hervorruft, andererseits kann der Gläubiger auch auf solche Forderungen nicht verzichten, um sein betriebswirtschaftliches Ziel zu erreichen, aber auch die Zahlungsmoral zu erhalten. Dabei ist diese Problematik unabhängig von der Frage festzustellen, ob ein Rechtsanwalt oder ein Inkassodienstleister beauftragt werden soll.
Beispiel
Die Verkehrsbetriebe haben erhebliche Probleme mit Personen, die ohne gültigen Fahrausweis das Angebot nutzen. Wer erwischt wird, muss 60 EUR als erhöhtes Beförderungsentgelt zahlen. Werden diese Gebühren vorgerichtlich nicht beigetrieben, entstehen dem Verkehrsbetrieb bei der Titulierung im gerichtlichen Mahnverfahren Kosten von 140,96 EUR. Werden anschließend die Vermögensauskunft abgenommen und darauf eine weitere Vollstreckungsmaßnahme ausgebracht, kommen mindestens weitere 100 EUR hinzu, ohne dass gesichert ist, dass diese Kosten auch wieder beigetrieben werden können. Das belastet den ÖPNV erheblich und erhöht den Druck für Preiserhöhungen oder kommunale Haushaltsdefizite und legt nahe, auf eine gerichtliche Beitreibung zu verzichten. Das hat aber Auswirkungen auf die Zahlungsmoral insgesamt. Bleibt das Fahren ohne Fahrausweis oder – allgemeiner – die Nichtbegleichung von kleinen Forderungen ohne Konsequenzen, wird die Hemmschwelle für solche Rechtsverstöße geringer und die Preise – auch für Schüler, Rentner und sozial Schwache – müssen steigen, damit die Kosten gedeckt werden. Soll der Verkehrsbetrieb wirklich gehalten sein, diese Forderungen nicht beizutreiben?
Es ist deshalb sachgerecht, einerseits längere vorgerichtliche Bemühungen zu unternehmen, um die Forderung einzuziehen und auf die abschreckende Wirkung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten zu setzen, auf die der Gläubiger im Rahmen seiner Schadensminderungspflicht nach § 254 Abs. 2 S. 1 BGB auch hinweisen muss. Andererseits müssen die vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten auch ausreichend sein, um den Aufwand abzugelten. Das Bemühen um eine gütliche Einigung im Spannungsfeld zu einer mangelnden Leistungswilligkeit und – vorübergehenden – Leistungsfähigkeit ist ein Geduldsspiel. In letzter Konsequenz darf aber auch die Höhe der Rechtsverfolgungskosten, die im Beispiel zu mehr als der Hälfte durch Kosten der Gerichte und Vollstreckungsorgane verursacht werden (!), kein Argument sein, dem Gläubiger eine Rechtsverfolgung mittels eines Rechtsdienstleisters zu versagen. Nicht der Gläubiger, sondern der Schuldner hat eine Pflichtverletzung begangen und es ist der Schuldner, der nicht frühzeitig den Weg zur gütlichen Einigung gefunden hat. Die gütliche Einigung muss trotzdem im Zentrum des Bemühens stehen. Davon ist der Gesetzgeber mit der Inkassoregulierung 2021 allerdings abgerückt, indem er die Motivation der Rechtsdienstleister für ein solches geduldiges Bemühen mit der Reduzierung der Einigungsgebühr von 1,5 auf 0,7 deutlich reduziert.
Rz. 51
Mag ein solcher Verzicht unter Ausnutzung der vom jeweiligen Markt zugelassenen Möglichkeiten der Preiskalkulation sowie steuerlicher Effekte betriebswirtschaftlich noch darstellbar sein, wenn das Geschäft nicht nur auf Kleinforderungen basiert, so ist er aber nicht wirklich gangbar: Wäre im Markt bekannt, dass Forderungen einer bestimmten Höhe generell oder von einem bestimmten Unternehmen nicht beigetrieben werden, so würde die Zahl der Schuldner, die Forderungen bis zu dieser Höhe nicht mehr ausgleichen, zulasten aller Verbraucher erheblich steigen. Die Zahlungsmoral würde einbrechen.
Hinweis
Hier ist zu sehen, dass Verbraucherschutz mit Schuldnerschutz nicht gleichgesetzt werden darf. Werden Forderungen von einzelnen Verbrauchern oder auch Gewerbetreibenden als Schuldnern nicht erfüllt, stellt dies zunächst einen Rechtsverstoß und eine vertragliche Pflichtverletzung dar, die der Gläubiger nicht hinnehmen muss. In betriebswirtschaftlicher Hinsicht wird er aber gezwungen sein, den Ausfall in dem Umfang zu kompensieren, in dem ihm eine Forderungseinziehung nicht gelingt. Preise und/oder Arbeitsplätze stehen so zur Disposition.
Rz. 52
Ist der Forderungsausfall aufgrund eines harten Wettbewerbes im Markt nicht oder jedenfalls nicht vollständig auf die Preise umzulegen, so mag der Ausfall im Einzelfall geringfügig erscheinen, in der Masse entsteht ab...