Dr. iur. Nikolas Hölscher
I. Diskussionsstand in der Literatur
Rz. 3
Als Gründe für die Rechtfertigung des Pflichtteilsrechts und dem damit verbundenen weitreichenden Eingriff in die Testierfreiheit werden genannt:
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Der Versorgungs- und Alimentationscharakter. Bei Inkrafttreten des BGB spielte dieser Gesichtspunkt noch eine größere Rolle. Denn damals waren die Alterssicherung und Berufsausbildung noch im Wesentlichen der privaten Vorsorge überlassen, während heute dies in vielfältiger Weise bereits durch die Leistungen der Eltern gegenüber ihren Kindern, insb. zur Ermöglichung einer qualifizierten Ausbildung, oder durch die Leistungen des Sozialstaates geschieht; |
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ein Steuerungseffekt gegen die Bildung von zu großen Vermögen. Dieser Gedanke findet sich insb. bei den Beratungen zum BGB, um fideikommissartige Zustände zu verhindern. Daneben wurden damals in diesem Zusammenhang auch familienpatriarische und deutsch-völkische Überlegungen vorgetragen; |
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eine Freiheitsbegrenzung, da anders als bei der sonstigen Ausübung von Freiheitsrechten bei der Testierfreiheit den Erblasser zu Lebzeiten keine Verantwortung für sein freiheitliches Handeln treffe; sowie |
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die Sicherung der Teilhabe am Familienvermögen und Familiengebundenheit des Vermögens. |
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Mehr skizzenhaft hingeworfen findet sich eine Überlegung, im Rahmen einer Neubewertung des Pflichtteilsrechts den Gedanken der Generationengerechtigkeit weniger mit der individuellen Familiengerechtigkeit als mit der Nachhaltigkeit zu verknüpfen und auch über den Zusammenhang des Pflichtteilsrechts mit dem Gemeinwohl nachzudenken. Da der Staat zunehmend für die Unterhaltsverpflichtungen aufkomme, die früher von der Familie getragen wurden, müsse hinterfragt werden, ob das Familienvermögen "am Staat vorbei vererbt werden kann". Dies gelte gerade für das Verhältnis des Sozialhilferechts zum Pflichtteil von "Problemkindern". Soll es möglich sein, dass ein Kind nur die Erträge des Familienvermögens erhält, während die Allgemeinheit für die Kosten dieses Kindes aufkommen müsse? Die Rspr. des BGH verläuft demgegenüber zu diesen Überlegungen genau entgegengesetzt. Dies zeigt insb. die Entscheidung zur Zulässigkeit des Pflichtteilsverzichts eines körperbehinderten Kindes, das Sozialhilfe bereits bei Abgabe der Verzichtserklärung bezog (eingehend dazu § 10 Rdn 46). |
Rz. 4
Verfassungsrechtlich steht das Pflichtteilsrecht im Spannungsfeld zwischen dem Prinzip der Testierfreiheit, das der Erblasser für sich in Anspruch nehmen will, und dem Verwandtenerbrecht. (1) Nach ganz h.M. genießt das Pflichtteilsrecht über Art. 14 i.V.m. Art. 6 GG zumindest in bestimmten Grenzen verfassungsrechtlichen Bestandsschutz, was insb. der BGH mehrmals betont hat. (2) Nach einer Mindermeinung verhalte sich das Grundgesetz zum Pflichtteilsrecht neutral, während vereinzelt vertreten wurde, dass (3) das Pflichtteilsrecht verfassungswidrig sei.
II. Entscheidung des BVerfG vom 19.4.2005 zum Pflichtteilsrecht
Rz. 5
Das BVerfG hatte zunächst in mehreren Entscheidungen die Frage der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Pflichtteilsrechts nicht abschließend bestimmt. Mit dem Beschl. v. 30.8.2000 hat die erste Kammer des ersten Senats des BVerfG eine Verfassungsbeschwerde, mit der die Verfassungswidrigkeit des Pflichtteilsrechts gerügt wurde und von der man sich eine grundsätzliche Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen erwartet hatte, gar nicht zur Entscheidung angenommen, weil ihr keine grundsätzliche Bedeutung zukomme (§ 93a BVerfGG). Erst in seinem sehr ausführlichen Beschl. v. 19.4.2005, der in seiner Begründung über die eigentlichen Anlassfälle weit hinausging, hat das BVerfG umfassend zur Verfassungsmäßigkeit des Pflichtteilsrechts der Abkömmlinge Stellung genommen. Danach wird die grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass durch die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 6 GG gewährleistet
Rz. 6
Das BVerfG begründet sein Ergebnis insb. mit einer historischen Auslegung, wonach das Pflichtteilsrecht der Abk...