Rz. 268
Der Begriff "Interessenkollision" wird zwar im juristischen Sprachgebrauch oft verwendet. Eine eindeutige Begriffsdefinition gibt es jedoch nicht. Unter Interessenkollision – auch Interessengegensatz oder Interessenwiderstreit genannt – wird im Allgemeinen das Zusammentreffen einander entgegengesetzter (widerstreitender) Interessen verstanden. Im Nachfolgenden soll dennoch versucht werden, den Begriff der Interessenkollision zu umreißen.
Rz. 269
Eine Interessenkollision liegt, wie bereits unter Rdn 258 erwähnt, schon dann vor, wenn nur die reine Möglichkeit eines Interessenkonflikts besteht, also schon bei der Annahme eines "doppelten" Mandats, und nicht erst dann, wenn tatsächlich für den Anwalt ein Interessenkonflikt eintritt. Es kommt nicht darauf an, ob die Mandanten damit einverstanden sind, dass der Anwalt beide Seiten vertritt. Die doppelte Mandatsannahme ist pflichtwidrig, § 43a Abs. 4 BRAO. Nach § 3 Abs. 1 BerufsO darf der Rechtsanwalt nicht tätig werden, wenn er, gleich in welcher Funktion, eine andere Partei in derselben Rechtssache im widerstreitenden Interesse bereits beraten oder vertreten hat oder mit dieser Rechtssache in sonstiger Weise im Sinne der §§ 45, 46 BRAO beruflich befasst war. Nach § 3 Abs. 2 S. 2 Berufsordnung wird das Verbot des § 3 Abs. 1 BORA jedoch dann nicht auf die mit einem Anwalt in einer Berufsausübungsgemeinschaft verbundenen Anwälte erstreckt, wenn sich die betroffenen Mandanten (beide!) in den widerstreitenden Mandaten nach umfassender Information ausdrücklich mit einer Vertretung einverstanden erklärt haben und Belange der Rechtspflege nicht entgegenstehen. Information und Einverständniserklärung sollen in Textform erfolgen.
Rz. 270
In der Praxis kommt es sehr häufig zu Interessenkollisionen, ohne dass der Rechtsanwalt entsprechend reagiert. Zwei Beispiele aus der Praxis sollen daher hier herausgestellt werden.
Rz. 271
In Unfallsachen besteht eine Interessenkollision nicht nur in den sehr klaren Fällen, in denen sowohl der Unfallverursacher als auch der Geschädigte vertreten werden, sondern bereits dann, wenn bspw. Fahrer und Insassen oder Insassen und Halter vertreten werden. Dies hängt mit den Änderungen des Schadensersatzrechts vom 1.8.2002 zusammen und betrifft auch die Fälle, in denen der Fahrer und die Beifahrerin bspw. verheiratet sind. Die Rechtsanwaltskammern empfehlen inzwischen dringend, die Frage der Interessenkollision in Unfallsachen eingehend zu prüfen. Problematisch ist eine Interessenkollision in Unfallsachen auch, wenn es zu einer Widerklage kommt und die am Unfall beteiligten Fahrzeuge bei dem gleichen Haftpflichtversicherer versichert sind. In diesen Fällen kann der Anwalt nur einen Beteiligten vertreten, entweder die Versicherung oder den Unfallbeteiligten. Der Rechtsanwalt sollte daher nur bei klarer Haftungslage ein Doppel-Mandat annehmen und bei unklarer Haftungslage eine doppelte Mandatierung ablehnen.
Rz. 272
In Familiensachen kommt es nicht selten vor, dass beide Ehegatten zusammen einen Anwalt aufsuchen. Hält der Rechtsanwalt nicht schon zu Beginn (!) der Besprechung fest, dass er nur eine Partei vertreten kann und benennt er diese auch im Gespräch nicht gleich, befindet er sich bereits in einem Interessenkonflikt. Denn die andere, später von ihm nicht anwaltlich vertretene Partei hätte womöglich im gemeinsamen Gespräch Dinge nicht angesprochen, wenn ihr klar gewesen wäre, dass der Rechtsanwalt die andere Partei vertreten wird. Die gemeinsame anwaltliche Beratung getrennt lebender Eheleute kann zwar nach Ansicht des BVerfG zulässig sein (BVerfG v. 3.7.2003 – 1 BvR 238/01, NJW 2003, 2520). Beachtet der Anwalt aber die vom BGH aufgestellten Hinweis- und Belehrungspflichten nicht, kann ihn das sein Honorar kosten (BGH v. 19.9.2013 – IX ZR 322/12). Suchen Eheleute gemeinsam einen Rechtsanwalt auf, um sich in ihrer Scheidungsangelegenheit beraten zu lassen, hat der Anwalt nach Ansicht des BGH vor Beginn der Beratung auf die gebühren- und vertretungsrechtlichen Folgen einer solchen Beratung hinzuweisen. Zeigt sich erst später eine Interessenkollision, sind beide Mandate niederzulegen.
Rz. 273
Grundsätzlich hat bereits im Vorfeld der Auftragsannahme die Interessenskollisionsprüfung stattzufinden. Stellt der Rechtsanwalt bei der Annahme des Mandats fest, dass eine Interessenkollision vorliegt, kann er das zweite Mandat nicht annehmen und sollte den Mandanten zu einem Kollegen übermitteln.
Rz. 274
Wird die Interessenkollision erst zu einem späteren Zeitpunkt festgestellt, zu einem Zeitpunkt also, nachdem das zweite Mandat bereits angenommen worden ist, müssen beide (!) Mandate unverzüglich niedergelegt werden. Erfolgt eine Niederlegung durch den Rechtsanwalt nicht, muss er nicht nur mit empfindlichen berufsrechtlichen Konsequenzen rechnen.
Rz. 275
Strafrechtlich regelt § 356 Abs. 1 StGB das pflichtwidrige anwaltliche Handeln für beide Parteien. Wird dem Rechtsanwalt in einer Angelegenheit in seiner Anwaltseigenschaft etwas anvertraut, und wird er in...