I. Lehre von der Rechtsscheinhaftung
Rz. 75
Die Kaufmannseigenschaft oder das Bestehen einer Handelsgesellschaft kann vorgetäuscht werden, etwa durch Äußerungen kaufmännischer Art, Führen einer Firma als Kaufmann oder Eröffnung und Unterhaltung eines kaufmännischen Geschäftsbetriebes.
Rz. 76
Derjenige, der im Rechtsverkehr als Kaufmann auftritt, muss sich nach allgemeinen Rechtsscheingrundsätzen gutgläubigen Dritten ggü. auch als solcher behandeln lassen. Im gesamten Handelsrecht hat die Lehre von der Rechtsscheinhaftung erhebliche praktische Bedeutung.
Beispiel
T ist Inhaber eines kleinen Obststandes auf einem Wochenmarkt und nicht im Handelsregister eingetragen. Nach außen tritt er unter der Firma "Obstgroßhandel T" auf. Gutgläubigen Dritten ggü. muss er sich daher wie ein Kaufmann behandeln lassen.
Rz. 77
Scheinkaufmann kann jede natürliche Person, Körperschaft oder Personengesellschaft sein. Voraussetzung ist nur, dass der jeweilige Rechtsträger nicht schon nach den allgemeinen Regeln des HGB Kaufmann ist.
II. Tatbestandsvoraussetzungen
Rz. 78
Ein Scheinkaufmann wird als Kaufmann behandelt, wenn die für allgemeine Rechtsscheintatbestände erforderlichen vier Voraussetzungen vorliegen:
(1) |
Rechtsscheintatbestand, |
(2) |
Zurechenbarkeit, |
(3) |
Schutzbedürftigkeit des Dritten sowie |
(4) |
Kausalität. |
1. Rechtsscheintatbestand
Rz. 79
Grundlage des Rechtsscheins kann ein – wie auch immer gearteter – Vertrauenstatbestand sein. Dieser kann ausdrücklich oder konkludent, in Worten oder in Taten begründet werden.
Beispiele
Auftreten eines Freiberuflers als Kaufmann, Auftreten von Gesellschaftern einer GbR unter der Firma einer KG, Auftreten als Vertreter für oder Gesellschafter einer nicht existierenden Gesellschaft, Inanspruchnahme kaufmännischer Einrichtungen.
Keine Rechtsscheingrundlage bieten dagegen allein die Benutzung von Briefbögen, die Eintragung in Branchenverzeichnissen oder die Teilnahme am Wechselverkehr. Solche Verhaltensweisen stehen auch Nichtkaufleuten offen.
2. Zurechenbarkeit des Rechtsscheins
Rz. 80
Der Rechtsschein muss zurechenbar veranlasst sein. Zurechenbarkeit bedeutet Einstehenmüssen für den gesetzten Rechtsschein. Dies kann ausdrücklich oder konkludent geschehen. Entscheidend ist, dass der Scheinkaufmann den Rechtsschein veranlasst oder gekannt und geduldet hat. Verschulden ist nicht erforderlich. Daher hat sich jemand, der sich als Kaufmann geriert, auch als solchen behandeln lassen, selbst wenn er selbst aufgrund eines unverschuldeten Irrtums an die Kaufmannseigenschaft geglaubt hat. Die Zurechenbarkeit ist unproblematisch zu bejahen, wenn jemand bewusst eine Firma gebraucht, wahrheitswidrig seine Kaufmannseigenschaft behauptet oder eine Prokura oder Handlungsvollmacht erteilt.
Rz. 81
Es genügt die objektive Vorhersehbarkeit, dass ein bestimmtes Handeln bei Dritten bzw. im Rechtsverkehr einen bestimmten Eindruck erwecken muss. Handelt es sich um ein Unterlassen, so muss zusätzlich ein Sorgfaltspflichtverstoß gegeben sein. Ist der Rechtsschein also zunächst ohne Zutun des Scheinkaufmanns entstanden, etwa durch Behauptungen Dritter, ist er ihm nur zurechenbar, falls der Scheinkaufmann davon nachträglich Kenntnis erlangt bzw. ihn wenigstens bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen können und nicht für die Beseitigung des Rechtsscheins sorgt.
Rz. 82
Von vornherein fehlt es an einer Zurechenbarkeit, wenn ein allgemeiner Zurechnungsausschluss vorliegt (z.B. Geschäftsunfähigkeit, beschränkte Geschäftsfähigkeit, vis absoluta). Im Übrigen ist der Zurechnungstatbestand nicht anfechtbar. Er kann also nicht rückwirkend beseitigt werden.
3. Schutzwürdigkeit des Geschäftsgegners
Rz. 83
Der Rechtsschein wirkt nur zugunsten eines gutgläubigen Dritten. Nach herrschender Meinung schadet bereits eine einfache Fahrlässigkeit. Der Dritte hat i.d.R. jedoch keine Nachforschungspflicht; etwas anderes kann nur gelten, wenn Anlass zu Zweifeln bestehen.