Julian Backes, Sven Eichler
Rz. 1839
In der täglichen Praxis begegnet der Verkehrsteilnehmer regelmäßig Beschilderungen, bei denen "das Gemeinte" nicht der tatsächlichen Anordnung entspricht und es somit der Interpretation des Empfängers bedarf, sich im Sinne des Schilderaufstellers korrekt zu verhalten.
Rz. 1840
Im folgenden Beispiel besteht die Intention offensichtlich darin, dem Radverkehr weiterhin eine Durchfahrt zu ermöglichen. Dem steht jedoch die vorderste Beschilderung entgegen, die genau diesen Vorgang verbietet. Der Radverkehr ist somit dazu angehalten gegen die erste Beschilderung zu verstoßen, wenn er der klar erkennbaren Zielvorstellung nachkommen will. Das Erfordernis und die Sinnhaftigkeit der übrigen Verkehrszeichen seien ebenfalls dahingestellt.
Abbildung 1: Widersprüchliche Beschilderungssituation, die dem Radverkehr die Durchfahrt gleichzeitig erlaubt und verbietet. Quelle: eigene Aufnahme VUT
Rz. 1841
Ein häufiges Problem besteht heutzutage auch darin, dass der Verkehrsteilnehmer durch unnötige Verkehrszeichen zu einer falschen Leseweise "erzogen" wird. Obgleich das VZ 250 (Verbot für Fahrzeuge aller Art) den Radverkehr explizit einschließt, wurde in folgender Abbildung unterhalb ein VZ 254 (Verbot für Radverkehr) montiert. Die diesseits bekannte Intention des Schilderaufstellers war es, aufgrund einer häufigen Missachtung durch Radfahrer für "Klarstellung" zu sorgen – doch bewirkt die Maßnahme das Gegenteil. Dem Betrachter wird an dieser Stelle, analog zur vorherigen Abbildung, suggeriert, dass das VZ 250 keine Wirkung für Radfahrer entfaltet. In Folge daraus ist zu erwarten, dass es an anderer Stelle zu falschen Handlungsweisen kommt und ein mit VZ 250 beschilderter Bereich "in bester Absicht", jedoch verbotswidrig, vom Radverkehr beansprucht wird.
Abbildung 2: Unnötige Doppelbeschilderung zum Ausschluss des Radverkehrs. Quelle: eigene Aufnahme VUT
Rz. 1842
Analog begegnet auch der Kraftfahrzeugverkehr regelmäßig Beschilderungen, die von Behörden unterschiedlich ausgelegt werden. Im folgenden Beispiel wurden zwei Streckenverbote (VZ 274 und VZ 276) am selben Pfosten angebracht und mit einem Zusatzzeichen ("auf 150 m") versehen. Von der Behörde ist gemeint, dass beide Streckenverbote enden, sobald die Gefahrenstelle in Form des linksseitigen Mündungsbereichs passiert wurde.
Abbildung 3: Der Absicht der Behörde nach sollen beide Streckenverbote durch das Zusatzzeichen in 150 m enden. Quelle: eigene Aufnahme VUT
Wendet der Verkehrsteilnehmer dieselbe Logik auf die folgende Abbildung an, so geht er davon aus, dass beide Streckenverbote (ebenfalls VZ 274 und VZ 276) nur für die im Zusatzzeichen benannten Fahrzeugarten gelten und bspw. für einen Pkw keine Wirkung entfalten. Tatsächlich wollte die Behörde hier jedoch eine für sämtliche Fahrzeuge geltende Geschwindigkeitsbegrenzung und nur ein Überholverbot für bestimmte Fahrzeuge zum Ausdruck bringen.
Abbildung 4: Der Absicht der Behörde nach soll das obere Streckenverbot für sämtliche Fahrzeuge gelten und sich das Zusatzzeichen nur auf das Überholverbot beziehen. Quelle: eigene Aufnahme VUT
Hintergrund der gezeigten Beschilderung war es, den Schwerlastverkehr beobachten und ggf. einer Kontrolle durch das BAG auf einem nachgelagerten Parkplatz zuführen zu können. Gleichzeitig wurde dort eine Geschwindigkeitsmessung mit dem Messgerät ES3.0 (vgl. Rdn 1031) durchgeführt, wobei die ungewöhnlich hohe Überschreitungsquote an diesem Tag den Schluss nahe legt, dass sich insbesondere der Pkw-Verkehr tatsächlich nicht als Adressat der Verkehrsbeschilderung gesehen hat.
Abbildung 5: Geschwindigkeitsmessung im Nachgang der vorab gezeigten Beschilderung; die Ausschnittsvergrößerung zeigt den Einsatz eines Messgerätes vom Typ ES3.0. Quelle: eigene Aufnahme VUT
Es empfiehlt sich daher immer, der dem Tatvorwurf zugrunde gelegten Verkehrsbeschilderung das nötige Augenmerk zu schenken und die verkehrsbehördliche Anordnung auf Erkennbarkeit und Verständlichkeit zu prüfen.
Rz. 1843
Im folgenden Kapitel werden zunächst Beispiele behandelt, bei denen die Problematik vornehmlich der Beschilderung selbst geschuldet ist.
1. Interpretierbare oder widersprüchliche Beschilderung
Rz. 1844
Einem Verkehrsteilnehmer wurde vorgeworfen, um 20:44 Uhr die mittels VZ 274–53 beschilderte zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um mehr als 21 km/h überschritten zu haben, mit der Folge eines Bußgeldbescheids und eines drohenden Eintrags von 1 Punkt im FAER. Der Verkehrsteilnehmer legte indes dar, dass die Begrenzung seiner Auffassung nach keine Wirkung mehr entfaltet habe, da das Limit mit einer Gefahr verknüpft war und diese zum Tatzeitpunkt nicht mehr bestand.
Bei Inaugenscheinnahme des zugehörigen Messprotokoll ergeben sich keine Hinweise darauf, dass außer dem VZ 274–53 weitere Verkehrszeichen montiert sind.
Abbildung 6: Auszug aus dem behördlichen Messprotokoll
Tatsächlich wurde im Rahmen eines Ortstermins jedoch folgende Beschilderungskombination festgestellt:
Abbildung 7: Vor Ort feststellbare Kombination aus VZ 136–10, Zusatzzeichen "Schule", VZ 274–53 und dem Zusatzz...