Rz. 214
Die Anschlussrevision wandte sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger habe unfallbedingt eine leichtgradige HWS-Distorsion als Primärverletzung erlitten. Diese Beurteilung war nicht frei von Rechtsfehlern (§ 286 ZPO).
Rz. 215
Die Beweiswürdigung ist zwar – wie oben bereits ausgeführt – grundsätzlich Sache des Tatrichters. Revisionsrechtlich ist jedoch zu überprüfen, ob sich der Tatrichter mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Würdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Einer solchen Überprüfung hielt das Berufungsurteil nicht stand. Die Anschlussrevision rügte mit Recht, dass die Überzeugungsbildung des Berufungsgerichts weder in dem Gutachten des Gerichtssachverständigen noch in den sonstigen Feststellungen eine Grundlage fand und das Berufungsgericht den Prozessstoff nicht hinreichend geklärt hatte.
Rz. 216
Der (medizinische) Gerichtssachverständige hatte seine vom Berufungsgericht als für seine Überzeugungsbildung maßgeblich erachtete Aussage, ein HWS-Beschleunigungstrauma sei "möglich", vom Ergebnis eines noch einzuholenden unfallanalytischen Gutachtens abhängig gemacht. Nach dem vorgelegten Bericht des Dr. S. war eine Verletzungsfolge im Sinne einer leichtgradigen HWS-Beschleunigungsverletzung (HWS-Distorsion) aus sachverständiger Sicht "möglich", sofern vom technischen Unfallsachverständigen überhaupt eine Relevanz des Unfallereignisses angenommen werde. Der medizinische Sachverständige hatte mithin eine HWS-Distorsion nur deshalb als "möglich" angesehen, weil die für eine abschließende medizinische Begutachtung erforderliche technische Sachaufklärung aus seiner Sicht noch nicht abgeschlossen war. Da das Berufungsgericht kein unfallanalytisches Sachverständigengutachten eingeholt hatte, war die Frage, ob der Kläger durch den Unfall eine entsprechende Verletzung erlitten hatte, nach dem Ergebnis des medizinischen Sachverständigengutachtens offen.
Rz. 217
Das Berufungsgericht durfte von der Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens mit anschließender Ergänzung des medizinischen Sachverständigengutachtens auch nicht deshalb absehen, weil das Berufungsgericht meinte, dass es aufgrund anderer Umstände vom Eintritt einer leichtgradigen HWS-Distorsion überzeugt sei.
Die Feststellung, es habe sich um einen "vergleichsweise heftigen Seitenaufprall" gehandelt, machte die Einholung eines technischen Sachverständigengutachtens nicht entbehrlich. Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen (vgl. etwa Senatsbeschl. v. 9.1.2018 – VI ZR 106/17, VersR 2018, 1147, Rn 16 m.w.N.). Die Anschlussrevision machte mit Recht geltend, dass das Berufungsgericht eigene Sachkunde, die es ihm erlaubt hätte, aus den Lichtbildern auf die kinetische Energie zu schließen, die auf die Halswirbelsäule des Klägers gewirkt haben könnte, nicht dargelegt hatte. Allein aus den Lichtbildern vom Schaden am Fahrzeug des Klägers ließen sich für einen Laien keine entsprechenden Rückschlüsse ziehen. Sie zeigten lediglich, dass das Fahrzeug des Klägers durch einen Streifschaden über die gesamte Seite beschädigt worden war, was zwar die Höhe des materiellen Schadens erklären konnte, jedoch keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Krafteinwirkung auf den Fahrer zuließ. Der Gerichtssachverständige hatte in diesem Zusammenhang ausgeführt, es habe sich um eine streifende seitliche Kollision und damit nicht um den Mechanismus gehandelt, bei dem typischerweise HWS-Beschleunigungsverletzungen auftreten könnten.
Rz. 218
Die Beurteilung des Berufungsgerichts ließ sich auch nicht allein auf die Befunde und Diagnosen der erstbehandelnden Ärzte stützen. Nach dem Senatsurt. v. 3.6.2008 (VI ZR 235/07, VersR 2008, 1133) haben entsprechende Ergebnisse als Indizien lediglich einen eingeschränkten Beweiswert und ersetzen deshalb grundsätzlich nicht die von den Parteien beantragte Einholung eines fachmedizinischen Sachverständigengutachtens durch das Gericht. Da der Arzt, der einen Unfallgeschädigten untersucht und behandelt, diesen nicht aus der Sicht eines Gutachters betrachtet, sondern ihn als Therapeut behandelt, steht für ihn die Notwendigkeit einer Therapie im Mittelpunkt, während die Benennung der Diagnose als solche für ihn zunächst von untergeordneter Bedeutung ist. Eine ausschlaggebende Bedeutung wird solchen Diagnosen im Allgemeinen jedenfalls nicht beizumessen sein. Der Gerichtssachverständige hatte im Streitfall hierzu ausgeführt, die vorliegenden Befunde seien zwar prinzipiell mit einer leichtgradigen HWS-Beschleunigungsverletzung ve...