Rz. 227
BGH, Urt. v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, VersR 2003, 474
Zitat
ZPO § 286
Allein der Umstand, dass sich ein Unfall mit einer geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung ("Harmlosigkeitsgrenze") ereignet hat, schließt die tatrichterliche Überzeugungsbildung nach § 286 ZPO von seiner Ursächlichkeit für eine HWS-Verletzung nicht aus.
1. Der Fall
Rz. 228
Der Kläger machte Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, bei dem der Beklagte zu 1 mit einem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw auf den vom Kläger geführten, verkehrsbedingt haltenden Pkw auffuhr. Die volle Haftung der Beklagten war außer Streit. Der Kläger begab sich am Nachmittag des Unfalltages in ärztliche Behandlung. Der von ihm aufgesuchte Facharzt diagnostizierte ein HWS–Schleudertrauma. Es folgte eine Behandlung mit Cervicalstütze, Spasmolytika, Schanzscher Krawatte und schmerzlindernden Medikamenten. In der Folgezeit litt der Kläger zunehmend unter einer Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule sowie unter vegetativen Symptomen wie häufig auftretendem Schwindel, Sehstörungen in Form von Schleiersehen und plötzlichem Auftreten von Übelkeit. Ende des Jahres nach dem ersten Unfall erlitt der Kläger einen weiteren Verkehrsunfall, bei dem er mit seinem Pkw frontal mit einem vor ihm ins Schleudern geratenem Fahrzeug kollidierte. Wegen anhaltender Beschwerden erfolgten klinische und radiologische Untersuchungen mit dem Verdacht einer Ruptur der Ligamenta alaria (Flügelbänder) im Bereich des Segments C1/C2. Dieser Verdacht führte schließlich zu einer operativen Fusion dieser Segmente. Der Kläger behauptete, aufgrund des ersten Unfalles leide er nach wie vor unter erheblichen Beschwerden. Das LG hat ihm – über den vorgerichtlich erhaltenen Betrag von 4.300 DM hinaus – ein weiteres Schmerzensgeld von 3.700 DM zugesprochen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers entsprach das OLG seinem Feststellungsbegehren und verurteilte die Beklagte darüber hinaus, an den Kläger über dem bereits gezahlten Betrag von 4.300 DM hinaus ein weiteres Schmerzensgeld von (umgerechnet) 30.000 DM zu zahlen. Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg.
2. Die rechtliche Beurteilung
Rz. 229
Die tatrichterliche Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger habe bei dem Unfall eine HWS–Distorsion der Stufe 1 erlitten, war aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.
Rz. 230
Die Frage, ob sich der Kläger bei dem Unfall überhaupt eine Verletzung zugezogen hatte, betraf die haftungsbegründende Kausalität, wobei der Nachweis des Haftungsgrundes nach § 286 ZPO den strengen Anforderungen des Vollbeweises unterlag. Dabei erfordert die notwendige Überzeugung des Richters keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit", sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet. Aus revisionsrechtlicher Sicht bestanden keine Bedenken dagegen, dass das Berufungsgericht im Rahmen der ihm obliegenden tatrichterlichen Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme die Überzeugung gewonnen hatte, dass die Angaben des Klägers über seine Beschwerden insgesamt glaubhaft erschienen, zumal die von ihm geklagten Beschwerden von keinem der Sachverständigen letztlich in Zweifel gezogen worden waren. Bei dieser Sachlage konnte es nach freier Überzeugung zu dem Ergebnis kommen, dass der Verkehrsunfall bei dem Kläger eine HWS-Distorsion im Sinne einer Körperverletzung ausgelöst hatte.
Rz. 231
Insbesondere war das Berufungsgericht unter den gegebenen Umständen nicht verpflichtet, hinsichtlich des Umfangs der Beschädigungen der beteiligten Fahrzeuge und der sich daraus ergebenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen und sodann mittels eines biomechanischen Gutachtens der Frage nachzugehen, ob der Unfall geeignet war, eine HWS-Distorsion hervorzurufen. Bei der Prüfung, ob ein Unfall eine Halswirbelsäulenverletzung verursacht hat, sind stets die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Die von der Revision herangezogene Auffassung, wonach bei Heckunfällen mit einer bestimmten im niedrigen Geschwindigkeitsbereich liegenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen, die im Bereich zwischen 4 und 10 km/h anzusetzen sind ("Harmlosigkeitsgrenze"), eine Verletzung der Halswirbelsäule generell auszuschließen sei, stößt in Rechtsprechung und Schrifttum zunehmend auf Kritik und wird insbesondere aus orthopädischer Sicht in Zweifel gezogen. Gegen die schematische Annahme einer solchen Harmlosigkeitsgrenze spricht auch, dass die Beantwortung der Kausalitätsfrage nicht allein von der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, sondern daneben von einer Reihe anderer Faktoren abhängt, wobei unter anderem auch der Sitzposition des betreffenden Fahrzeuginsassen Bedeutung beizumessen sein kann. Nach den von den Instanzgerichten getroffenen Feststellungen erfolgt...