Rz. 236
BGH, Urt. v. 8.7.2008 – VI ZR 274/07, VersR 2008, 1126
Zitat
ZPO § 286
Zur "Harmlosigkeitsgrenze" bei einer Frontalkollision (Fortführung des Senatsurt. v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, VersR 2003, 474 ff.).
1. Der Fall
Rz. 237
Der Kläger machte aus übergegangenem Recht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall der Polizeibeamtin L. geltend.
Rz. 238
Am 7.10.2003 bog die Beklagte zu 1 mit ihrem bei der Beklagten zu 2 versicherten Pkw aus einem Parkplatz kommend auf die daran vorbeiführende Vorfahrtsstraße ein, ohne auf den von links herannahenden bevorrechtigten Pkw der Beamtin L. zu achten. Trotz einer Vollbremsung stieß L. mit der Frontseite ihres Fahrzeugs gegen die linke Seite des Pkw der Beklagten zu 1. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist außer Streit. Die Zeugin L., die vor dem Unfall beschwerdefrei war, suchte am 9.10.2003 wegen Nacken- und Kopfschmerzen ihren Hausarzt Dr. G. auf, der wegen der eingeschränkten Rotation der Halswirbelsäule eine radiologische Untersuchung veranlasste und Tabletten verordnete. Die radiologische Untersuchung erbrachte keinen krankhaften Befund. Am 20.10.2003 suchte L. erneut Dr. G. auf und klagte über fortdauernde Kopfschmerzen, körperliche Bewegungsbeeinträchtigungen sowie ein andauerndes Unwohlgefühl. Dr. G. schrieb daraufhin L. bis zum 2.11.2003 arbeitsunfähig und verordnete physiotherapeutische Behandlungen. Der Kläger erbrachte hierfür Heilfürsorgeleistungen und zahlte an L. für den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit die Dienstbezüge weiter. Er behauptete, L. habe durch den Zusammenstoß ein HWS-Schleudertrauma erlitten und sei dadurch vorübergehend arbeitsunfähig geworden. Die Beklagten hätten deshalb die entstandenen Kosten von insgesamt 1.622,69 EUR zu erstatten.
Rz. 239
Das Amtsgericht hat die Zeugin L. vernommen und der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das LG unter Zugrundelegung der Aussage der erneut vernommenen Zeugin L. und des behandelnden Arztes Dr. G. sowie des Inhalts der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zur Klärung der Frage zugelassen, ob auch bei einer Frontkollision die Grundsätze des Senatsurt. v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, VersR 2003, 474 ff., dem ein Heckanstoß zugrunde lag, Anwendung finden können. Die Beklagten begehrten mit der Revision weiterhin die Abweisung der Klage.
2. Die rechtliche Beurteilung
Rz. 240
Das angefochtene Urteil hielt der revisionsrechtlichen Nachprüfung stand.
Rz. 241
Die Feststellung des Berufungsgerichts, die Beamtin L. habe bei dem Unfall am 7.10.2003 eine HWS-Distorsion erlitten, ließ entgegen der Auffassung der Revision einen Rechtsfehler nicht erkennen.
Rz. 242
Das Berufungsgericht hatte nicht verkannt, dass die Frage, ob sich L. bei dem Unfall überhaupt eine Verletzung zugezogen hat, die haftungsbegründende Kausalität betrifft und damit den strengen Anforderungen des Vollbeweises gemäß § 286 ZPO unterliegt (st. Rspr.; vgl. BGHZ 4, 192, 196; Senatsurt. v. 11.6.1968 – VI ZR 116/67, VersR 1968, 850, 851; v. 20.2.1975 – VI ZR 129/73, VersR 1975, 540, 541; v. 21.10.1986 – VI ZR 15/85, VersR 1987, 310 und v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, VersR 2003, 474, 475). Danach hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht für wahr zu erachten ist. Die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Richters erfordert keine absolute oder unumstößliche Gewissheit und auch keine "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit", was die Revision meinte, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (vgl. BGHZ 53, 245, 256; Senatsurt. v. 9.5.1989 – VI ZR 268/88, VersR 1989, 758, 759 und v. 28.1.2003 – VI ZR 139/02, a.a.O. sowie BGH, Urt. v. 18.4.1977 – VIII ZR 286/75, VersR 1977, 721). Die Würdigung der Beweise ist grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gemäß § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr. vgl. z.B. BGHZ 160, 308, 317 m.w.N.; Senatsurt. v. 1.10.1996 – VI ZR 10/96, VersR 1997, 362, 364). Ein solcher Fehler war nicht ersichtlich.
Rz. 243
Unter den gegebenen Umständen war das Berufungsgericht nicht verpflichtet, mittels eines unfallanalytischen und eines biomechanischen Gutachtens zu klären, ob der Unfall geeignet war, eine HWS-Distorsion bei der Zeugin L. hervorzurufen. Das Berufungsgericht hatte sich seine Überzeugung auf der Grundlage der Bekundungen der Zeugin L. und des behan...