Gerhard Ring, Line Olsen-Ring
a) Verfahrensrecht
Rz. 406
Nach der kollisionsrechtlichen Norm des Art. 15 Abs. 1 KSÜ wenden die Behörden der Vertragsstaaten bei der Ausübung ihrer internationalen Zuständigkeit (da auf Art. 3 KSÜ aufbauend) im Hinblick auf alle gerichtlichen oder behördlichen Umgangs- und Sorgerechtsregelungen ihr eigenes Verfahrensrecht (lex fori) an – i.d.R. das Aufenthaltsrecht (da nach Art. 5 KSÜ regelmäßig das Gericht am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts zuständig ist).
Rz. 407
Problematisch ist, ob eine Anwendung der Kollisionsnorm des Art. 15 Abs. 1 KSÜ – wobei das KSÜ, anders als das MSA (siehe Rdn 360 ff.), neben der EUEheVO 2003 (siehe Rdn 5 ff.) anwendbar ist – überhaupt in Betracht kommt, wenn sich die Zuständigkeit nicht nach dem KSÜ, sondern nach den Art. 8 ff. EUEheVO 2003 richtet, wofür drei Lösungswege angeboten werden:
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Folgt man dem Gleichlaufprinzip (Zweck des Art. 15 Abs. KSÜ ist es, den lex fori zur Anwendung zu bringen), soll sich Art. 15 Abs. 1 KSÜ (über seinen Wortlaut hinaus) auch auf sich aus der EUEheVO 2003 ergebende Zuständigkeiten erstrecken. |
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Ist Zweck des Art. 15 Abs. 1 KSÜ, das Recht am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes für anwendbar zu erklären (vgl. Art. 5 KSÜ), ist die Regelung nicht auf weitere Zuständigkeitsbereiche übertragbar. |
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Art. 15 Abs. 1 KSÜ soll nach einer dritten Ansicht nur dann anwendbar sein, wenn sich im Falle einer fiktiven Anwendung aus den Art. 5 ff. KSÜ gleichermaßen eine Zuständigkeit ergäbe. |
Rz. 408
Wechselt der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes von einem Vertragsstaat in einen anderen, so bestimmt nach Art. 15 Abs. 3 KSÜ das Recht dieses anderen Staates vom Zeitpunkt des Wechsels an (d.h. ex nunc) die Bedingungen, unter denen die im Staat des früheren gewöhnlichen Aufenthalts getroffenen Maßnahmen angewendet werden. Ausnahmsweise (i.S. einer Ausweichklausel) kann nach Art. 15 Abs. 2 KSÜ zum Schutz der Person oder des Vermögens des Kindes auch ein fremdes Verfahrensrecht angewendet oder berücksichtigt werden, wenn der Sachverhalt zu dem fremden Staat eine "enge Verbindung" aufweist.
b) Materielles Recht
Rz. 409
Die materiell-rechtliche Frage nach der Zuweisung, der Entziehung bzw. der Ausübung der "elterlichen Verantwortung" (i.S.v. Art. 3 KSÜ; zum Begriff siehe Rdn 394) beurteilt sich nach dem Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes (vgl. Art. 16 Abs. 1 und 2 bzw. Art. 17 S. 1 KSÜ – d.h. der Daseinsmittelpunkt des Kindes). Erfolgt ein Statutenwechsel durch Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen Staat, so wirkt das grundsätzlich ex nunc (vgl. Art. 16 Abs. 3 und 4 bzw. Art. 17 KSÜ).
Rz. 410
Art. 19 Abs. 1 KSÜ schützt beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen den guten Glauben an die gesetzliche Vertretungsmacht: Die Gültigkeit eines Rechtsgeschäfts zwischen einem Dritten und einer anderen Person, die nach dem Recht des Staates, in dem das Rechtsgeschäft abgeschlossen wurde, als gesetzlicher Vertreter zu handeln befugt wäre, kann nicht allein deswegen bestritten und der Dritte nicht nur deswegen verantwortlich gemacht werden, weil die andere Person nach dem in den Art. 15 ff. KSÜ (Anzuwendendes Recht) bestimmten Recht nicht als gesetzlicher Vertreter zu handeln befugt war. Etwas anderes gilt dann, wenn der Dritte wusste oder hätte wissen müssen, dass sich die elterliche Verantwortung nach diesem Recht bestimmte. Die Regelung des Art. 19 Abs. 1 KSÜ ist aber nur anzuwenden, wenn das Rechtsgeschäft unter Anwesenden im Hoheitsgebiet desselben Staates geschlossen wurde (Art. 19 Abs. 2 KSÜ).
Rz. 411
Nach Art. 20 KSÜ sind die Vorgaben über das anwendbare Recht selbst dann anzuwenden, wenn das darin bestimmte Recht das eines Nichtvertragsstaates ist (Wirkung des KSÜ als loi uniforme).
Rz. 412
Nach Art. 21 Abs. 1 KSÜ ist eine Rück- und Weiterverweisung grundsätzlich ausgeschlossen (Ausschluss des renvoi), womit Vereinbarungen nach dem KSÜ Sachnormverweisungen sind. Der Begriff "Recht" i.S.d. Art. 15 ff. KSÜ (Anzuwendendes Recht) meint das in einem Staat geltende Recht mit Ausnahme des Kollisionsrechts. Davon macht jedoch Art. 21 Abs. 2 KSÜ im Hinblick auf die Weiterverweisung insoweit eine Ausnahme für den Fall, dass das nach Art. 16 KSÜ anzuwendende Recht das eines Nichtvertragsstaates (Drittstaates) ist und das Kollisionsrecht dieses Staates auf das Recht eines anderen Nichtvertragsstaates verweist, der sein eigenes Recht anwenden würde. Dann ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden. Betrachtet sich das Recht dieses anderen Nichtvertragsstaates als nicht anwendbar, so ist das nach Art. 16 KSÜ bestimmte Recht anzuwenden.
Rz. 413
Die Anwendung des nach Maßgabe der Art. 15 ff. KSÜ anzuwendenden Rechts darf gem. Art. 22 KSÜ nur versagt...