Gerhard Ring, Line Olsen-Ring
Rz. 430
Macht eine Person, Behörde oder sonstige Stelle geltend, ein Kind sei unter Verletzung des Sorgerechts entführt oder zurückbehalten worden, so kann sie sich gem. Art. 8 Abs. 1 HKEntfÜ aufgrund eines Antrags nach Maßgabe von Art. 8 Abs. 2 HKEntfÜ (unter Anführung bestimmter Tatsachen und Beifügung von Schriftstücken) entweder an die für den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes zuständige Zentrale Behörde oder an die Zentrale Behörde eines anderen Vertragsstaates (i.S.d. Art. 6 f. HKEntfÜ) wenden, um mit deren Unterstützung die Rückgabe des Kindes sicherzustellen. Hat die Zentrale Behörde, bei der ein Antrag nach Art. 8 HKEntfÜ eingeht, Grund zu der Annahme, dass sich das Kind in einem anderen Vertragsstaat befindet, so übermittelt sie gem. Art. 9 HKEntfÜ den Antrag unmittelbar und unverzüglich der Zentralen Behörde dieses Staates. Sie unterrichtet davon auch die ersuchende Zentrale Behörde oder ggf. den Antragsteller (Abgabenachricht). Die Zentrale Behörde des Staates, in dem sich das Kind befindet, trifft oder veranlasst gem. Art. 10 HKEntfÜ alle geeigneten Maßnahmen, um die freiwillige Rückgabe des Kindes zu bewirken. Bei einer Einschaltung von Gerichten oder Verwaltungsbehörden haben diese "mit der gebotenen Eile" zu entscheiden (Art. 11 Abs. 1 HKEntfÜ). Steht auch noch nach sechs Wochen eine Entscheidung aus, statuiert Art. 11 Abs. 2 HKEntfÜ einen Anspruch auf Begründung der Verzögerung.
Rz. 431
Im Falle eines bei einem zuständigen Gericht oder einer zuständigen Verwaltungsbehörde eingegangenen Rückgabeantrags und sofern seit der Entführung noch kein Jahr vergangen ist, verpflichtet Art. 12 Abs. 1 HKEntfÜ zur Anordnung der "sofortigen Rückgabe des Kindes". Dies geschieht auch dann, wenn zwar die Entführung schon länger zurückliegt, aber nicht der Nachweis geführt werden kann, dass sich das Kind in seine neue Umgebung eingelebt hat (Art. 12 Abs. 2 HKEntfÜ). Art. 12 Abs. 1 HKEntfÜ gelangt entsprechend zur Anwendung, wenn das Kind nach Ablauf der Ein-Jahres-Frist im neuen Staat umgezogen, sich am neuen Ort aber noch nicht eingelebt hat. Das HKEntfÜ soll hingegen dann überhaupt nicht anwendbar sein, wenn das Kind nach Rückgabe im neuen Staat verbleiben soll.
Rz. 432
Art. 12 HKEntfÜ als zentrale Regelung des Abkommens ("Kernstück") erfährt eine Ergänzung durch Art. 16 HKEntfÜ: Ist den Gerichten oder Verwaltungsbehörden des Vertragsstaates, in den das Kind verbracht oder in dem es zurückgehalten wurde, das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten des Kindes i.S.d. Art. 3 HKEntfÜ mitgeteilt worden, so dürfen sie eine Sachentscheidung über das Sorgerecht erst treffen, wenn entschieden ist,
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dass das Kind aufgrund des HKEntfÜ nicht zurückzugeben ist oder |
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wenn innerhalb angemessener Frist nach der Mitteilung kein Antrag nach dem Übereinkommen gestellt wird. |
Rz. 433
Eine Sachentscheidung ist nicht mehr möglich, nachdem die Rückgabe angeordnet worden ist und der Antragsteller die Vollstreckung der Anordnung (bspw. nach deutschem Recht gem. § 89 Abs. 1 FamFG mittels Ordnungsgeld bzw. Ordnungshaft oder nach § 90 FamFG Anwendung unmittelbaren Zwangs betreibt).
Rz. 434
Eine Ablehnung der Rückgabe (des Kindes) ist nach Maßgabe von Art. 13 Abs. 1 HKEntfÜ möglich, wenn die Person, Behörde oder sonstige Stelle, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist,
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dass die Person, Behörde oder sonstige Stelle, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt, dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt hat (lit. a), oder |
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dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt (lit. b). |
Rz. 435
Zudem ist eine Ablehnung der Rückgabe gem. Art. 13 Abs. 2 HKEntfÜ möglich, wenn sich das Kind der Rückgabe widersetzt und es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen – was (trotz bestandskräftiger Herausgabeanordnung) auch für dessen Vollstreckung gelten soll. Eine Rückgabe des Kindes kann nach Art. 20 HKEntfÜ auch dann abgelehnt werden, wenn sie nach den im ersuchten Staat geltenden Grundwerten über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unzulässig ist.
Rz. 436
Hinweis: Art. 11 Abs. 4 EUEheVO 2003 erweitert und ergänzt das HKEntfÜ dahingehend, dass das Kind selbst dann herauszugeben ist, wenn die durch die Herausgabe entstehenden Gefahren durch angemessene staatliche Vorkehrungen beseitigt werden können – wobei entsprechende Auflagen zum Schutz des Kindes angeordnet werden können.
Rz. 437
Beachte zudem: Nach Art. 11 Abs. 6 EUEheVO 2003 können die Gerichte des ursprünglichen Aufenthaltsstaates die örtliche Zuständigkeit für das Herausgabeverfahren zurückerhalten, wenn die Gerichte des Staates, in den das Kind entführt worden ist, nicht die Heraus...