Rz. 2

Tacitus war ein römischer Chronist in der Zeit Kaiser Trajans, etwa 100 Jahre nach Christus. Sein bekanntestes Werk heißt "Germania". Obwohl Tacitus wahrscheinlich nie selbst in Germanien war, ist diese Schilderung für unser Bild vom germanischen Recht grundlegend.[2]

Tacitus berichtete über die Germanen: "Doch als Erben und Rechtsnachfolger hat jeder nur die eigenen Söhne, und es gibt auch kein Testament."[3] Diese Feststellung gilt als gesichert.

Die neuere Forschung ergänzt sie nur für den besonderen Fall, dass es bei Erblassern ohne Kinder ein gewisses Bestimmungsrecht gegeben haben mag (der sog. gekorene Erbe). Unter Zustimmung einer öffentlichen Versammlung wurde der gekorene Erbe an Kindes statt angenommen. Es trat sonst ein Heimfallrecht an die Sippe oder den später an deren Stelle tretenden Staat ein.[4]

 

Rz. 3

Grundsätzlich erbten die Kinder, der Familienverband, die Sippe. Eine Sondererbfolge gab es für bestimmtes Gut: Dies waren die "Heergewäte" beim Mann – also etwa die Kleider, Waffen und das Streitross – und die "Gerade" bei der Frau – also z.B. Kleidung und Schmuck. Diese Sondergüter fielen jeweils an den nächsten männlichen bzw. weiblichen Verwandten (meist an den ältesten Sohn oder die Tochter), wenn sie nicht als Totengabe mit in das Grab gelegt worden waren.[5]

Für eine Art "Erbengemeinschaft" ("Gemeinderschaft") blieb das im Sondereigentum des Hausherrn befindliche unbewegliche und sonstige bewegliche Gut. Unbewegliches Gut war aber teilweise noch Eigentum der Sippe insgesamt.[6] Über sein Gut konnte der Hausherr auch zu Lebzeiten nicht frei verfügen. Er war durch Anwartschaftsrecht der Hausgenossen – insbesondere der Söhne – in seiner Verfügungsmacht beschränkt und bedurfte im Einzelfall deren Zustimmung[7] – wenn man so will, ein verschärfter § 2287 BGB.

Verstarb der Hausherr, nahmen die Hausgenossen sein Gut als Gesamthänder.[8] Die Töchter waren ausgeschlossen. Die Söhne bewirtschafteten den Hof oft gemeinschaftlich.[9] Eine ungeteilte Gemeinschaft wurde auch "Brüdergemeinschaft" genannt.[10] Ähnliche "Hausgenossenschaften" oder "Gemeinderschaften" sind in den Volksrechten der Langobarden, Alemannen, Bayern und Franken bezeugt und Sachsen, Friesen, Angelsachsen, Ostgermanen und Skandinavier kannten sie ebenfalls.[11]

 

Rz. 4

Rechtshistoriker haben verschiedene Ansichten über die Stellung des ältesten Bruders vertreten. Sicher ist, dass sie herausgehoben war. Ob der älteste Bruder aber "nur" der "primus inter pares" war oder im Sinne eines "Ältestenrechts" fast eine "Individualsukzession" beanspruchen konnte, bei welchem mit der Teilung die jüngeren Brüder gleichsam "Grundholden" des ältesten wurden, also eine Frühform der Grundherrschaft entstand, war unsicher.[12]

Conrad gibt eine schlüssige Darstellung: Nach ihm nahm der älteste Bruder den Sitz des Hausherrn ein und übte die Hausgewalt aus. Eine Auseinandersetzung erfolgte zu gleichen Teilen. Der älteste Sohn hatte auch hier wieder ein Vorrecht: Ihm konnte der Hof zugeteilt werden.[13]

 

Rz. 5

Auch im fränkischen Königtum lebten der Gedanke der Samtherrschaft und damit die Idee des Gesamtreiches weiter.[14] Zwar konnten "Reich und Schatz" unter mehreren Söhnen geteilt werden. Starb ein Teilkönig, wurden aber seine Söhne wiederholt von der Erbfolge ausgeschlossen, so dass das Reich wieder vereint werden konnte.[15]

[2] Vgl. zu Leben und Werk von Tacitus: Flaig, in: Der neue Pauly, Spalten 1209–1214.
[3] Tacitus, Germania c. 20 (Übersetzung von Perl), S. 100 f.; vgl. Conrad, S. 61; Schröder/Künßberg, S. 78; Hagemann, HRG (1971), Spalte 974.
[4] Conrad, S. 61; Schröder/Künßberg, S. 357; Brunner, S. 90.
[5] Conrad, S. 61; Schröder/Künßberg, S. 77 f.; Bader/Dilcher, S. 99.
[6] Conrad, S. 59; Hübner, S. 734 f.
[7] Conrad, S. 59; mit Hinweisen zu lokalen Unterschieden: Heusler, S. 228.
[8] Hübner spricht zunächst weniger von Erbrecht sondern einem "gemeinschaftlichem Nachrücken in das Gesamtgut", vgl. Hübner, S. 735.
[9] Schröder/Künßberg, S. 358.
[10] Conrad, S. 59; Schneider, S. 111 f.
[11] Hübner, S. 155.
[12] Einem Einblick in die Diskussion liefern Schulz, S. 264–272, und Conrad, S. 60, mit Nachweisen, die für ein modifiziertes Bild des germanischen Erbrechts, insbesondere für eine noch stärkere Stellung des ältesten Sohnes sprechen.
[13] Conrad, S. 59; anders: Brunner, S. 104 f.
[14] Schneider, S. 82.
[15] Grass, HRG (1971), Spalten 962 f.

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