Rz. 194
"Herzstück" des reformierten VVG 2008 war die Abschaffung des "Alles oder Nichts-Prinzips" bei grober Fahrlässigkeit, und zwar nicht nur bei Herbeiführung des Versicherungsfalles, sondern auch bei Obliegenheitsverletzungen. Die Quotenbildung bei grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung gab es bereits seit 1976 – unbemerkt in der Bundesrepublik Deutschland – in der DDR. § 245 Abs. 1 S. 3 ZGB/DDR enthielt zu den Kürzungsmaßstäben bei Obliegenheitsverletzungen folgende Regelung:
Zitat
"Hierbei sind die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pflichtverletzung, Art und Grad des Verschuldens, die Schwere der Folgen sowie die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherungsnehmers und der vom Schaden betroffenen mitversicherten Personen zu berücksichtigen."
Rz. 195
Zunächst wurde im Schrifttum und in der Kommentierung das sog. "Mittelwertmodell" favorisiert, nach dem von einer "Einstiegsquote" von 50 % auszugehen sei; der Versicherungsnehmer, der eine höhere Leistung verlange, müsse beweisen, dass sein Verhalten unterhalb der mittleren groben Fahrlässigkeit anzusiedeln sei, der Versicherer trage die Beweislast, wenn er eine höhere Leistungskürzung mit der Begründung vornehmen wolle, der Versicherungsnehmer habe ein Verhalten gezeigt, welches deutliche über der mittleren groben Fahrlässigkeit liege. Dieses Mittelwertmodell ist zwar praktikabel, ist aber mit der Intention des Gesetzgebers, der auf den Einzelfall abstellt, nicht vereinbar. In der Begründung des Regierungsentwurfs vom 16.10.2006 heißt es auf S. 173:
Zitat
"Für das Verschuldensmaß, nach dem sich im Fall grober Fahrlässigkeit der Umfang der Leistungspflicht bestimmt, ist der Versicherer beweispflichtig."
Rz. 196
Bestätigt wird diese Auffassung durch das Urteil des BGH vom 22.6.2011 In dieser Entscheidung heißt es:
Zitat
"Hat der Versicherungsnehmer entlastende Umstände vorgetragen, die den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit jedenfalls im subjektiven Bereich in milderem Licht erscheinen lassen, und kann der Versicherer diese nicht ausräumen, so kommt nur eine anteilige Kürzung und keine vollständige Leistungsfreiheit in Betracht."
Rz. 197
Folgerichtig setzt sich in der Rechtsprechung immer mehr das "Zwei-Skalen-Modell" durch, nach dem die objektive und die subjektive Seite des Fehlverhaltens auf einer Skala von 0 bis 100 zu bewerten ist. Jeder Einzelfall ist unter Berücksichtigung der subjektiven und objektiven Seite zu bewerten, und zwar auf einer Skala von 0 bis 100 %.