Rz. 200
§ 28 VVG enthält keine Regelung zur Quotenbildung bei mehreren Obliegenheitsverletzungen. In der Gesetzesbegründung ist lediglich das Zusammentreffen einer grob fahrlässigen Obliegenheitsverletzung mit der grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalles (§ 81 Abs. 2 VVG) angesprochen. Hier heißt es, dass in derartigen Fällen eine einheitliche Quote zu bilden ist. Diese Regelung dürfte auch dann anzuwenden sein, wenn mehrere Obliegenheitsverletzungen zusammentreffen. Wie diese Quote zu bilden ist, wird in der Literatur unterschiedlich behandelt:
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Die einzelnen Quoten werden bis zu einer Kürzungsquote von höchstens 100 % addiert (Additionsmodell), |
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berücksichtigt wird nur die schwerwiegendste Pflichtverletzung, die anderen Pflichtverletzungen werden konsumiert (Konsumtionsmodell), |
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die einzelnen Quoten werden nacheinander multipliziert (Stufenmodell). |
Rz. 201
Eine Addition der verschiedenen Kürzungsquoten würde in vielen Fällen zur völligen Leistungsfreiheit des Versicherers führen; dieses Ergebnis entspricht nicht der Intention des Gesetzgebers, der das frühere "Alles oder Nichts-Prinzip" für den Bereich der groben Fahrlässigkeit abschaffen wollte.
Auch die Quotenkonsumtion ist bedenklich, da eine Gesamtwürdigung des Fehlverhaltens nicht möglich wäre und nur die schwerste Obliegenheitsverletzung zu berücksichtigen ist, während alle anderen "unter den Tisch fallen".
Wenn eine Addition und eine Konsumtion nicht in Betracht kommen, dürfte das sog. Stufenmodell (Quotenmultiplikation) am ehesten zu gesetzeskonformen Ergebnissen führen. Aber auch hier ist zu unterscheiden, ob die Obliegenheitsverletzung auf einer einheitlichen oder mehreren Handlungen beruht und ob die Obliegenheiten demselben Schutzzweck dienen.
Hier kann die frühere Rechtsprechung des BGH zu den Regresshöchstbeträgen bei Obliegenheitsverletzungen analog herangezogen werden und als Auslegungshilfe dienen. Mehrere Obliegenheitsverletzungen vor Eintritt des Versicherungsfalles werden nur einmal berücksichtigt, ebenso mehrere Obliegenheitsverletzungen nach Eintritt des Versicherungsfalles. Wenn man diese Rechtsprechung analog auf § 28 VVG anwendet, führt dies dazu, dass mehrere Obliegenheitsverletzungen vor Eintritt des Versicherungsfalles auch nur einmal zu berücksichtigen sind und zu einer einmaligen Leistungskürzung berechtigen, während die Kürzungsquote für die Obliegenheitsverletzung nach Eintritt des Versicherungsfalles zu addieren ist.
Beispiel
Bei alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit und anschließender Verletzung der Aufklärungsobliegenheit ist zunächst eine Kürzung wegen der Fahruntüchtigkeit um 50 % vorzunehmen. Wenn die anschließende Verletzung der Aufklärungsobliegenheit ebenfalls mit einer Kürzungsquote von 50 % berücksichtigt wird, ergibt sich eine Leistungsquote von 25 %.