Rz. 143
Der Versicherungswert ist die "Soll-Versicherungssumme" und in der Regel identisch mit der möglichen Höchstentschädigung. Nur derjenige Versicherungsnehmer erhält vollen Schadensersatz, der die versicherten Gegenstände voll versichert hat (Vollwertprinzip). Die Versicherungssumme, die der Versicherungsnehmer regelmäßig alleinverantwortlich bestimmt, muss dem tatsächlichen Wert der versicherten Sache entsprechen. Bei zu hoher Versicherungssumme liegt Überversicherung vor (§ 77 VVG), bei zu niedriger Versicherungssumme Unterversicherung (§ 75 VVG) vor.
I. Überversicherung (§ 74 VVG)
Rz. 144
Eine Überversicherung wird in der Regel irrtümlich oder in betrügerischer Absicht vorgenommen; sie kann aber auch durch Wertverfall der versicherten Sachen eintreten. Eine betrügerische Überversicherung führt zur Nichtigkeit des Vertrages, dem Versicherer steht jedoch die Prämie bis zu dem Zeitpunkt zu, zu dem er von den die Nichtigkeit begründenden Umständen Kenntnis erlangt (§ 74 Abs. 2 S. 2 VVG). § 74 VVG ist eine halbzwingende Vorschrift, von der nicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers abgewichen werden darf (§ 87 VVG).
Bei einfacher (nicht betrügerischer) Überversicherung wird die Prämie verhältnismäßig gemindert (§ 74 Abs. 1 VVG).
II. Unterversicherung (§ 75 VVG)
Rz. 145
In der Praxis bedeutsamer ist die Unterversicherung, die insbesondere in der Hausratversicherung leicht eintreten kann. Die meisten Verträge sehen daher zwischenzeitlich eine automatische Anpassungsklausel vor.
Grundsätzlich ist es Sache des VN, den Wert der versicherten Sache anzugeben und für ausreichenden Versicherungsschutz zu sorgen. Wenn der Versicherer oder sein Agent Hinweis- und Beratungspflichten verletzt hat, ist es dem Versicherer verwehrt, sich auf die Unterversicherung zu berufen.
In der Sachversicherung ist gem. § 88 VVG Versicherungswert der Wiederbeschaffungswert. Maßgeblich ist der Betrag, der für die Wiederbeschaffung oder Wiederherstellung der beschädigten Sache in neuwertigem Zustand aufzuwenden ist, abzüglich des Minderwertes, der sich aus dem Zustand der Sache bei Schadeneintritt ergibt. § 88 VVG gehört zu den dispositiven Vorschriften; die Mitversicherung des Abzuges "neu für alt" ist daher möglich und führt zur Neuwertversicherung. In allen Fällen muss die Versicherungssumme dem höheren Wiederbeschaffungswert bzw. Neuwert der versicherten Sache entsprechen.
Rz. 146
Liegt Unterversicherung vor, wird die Entschädigung entsprechend dem Verhältnis der Versicherungssumme zum Versicherungswert gemindert (Proportionalitätsregel):
Rz. 147
§ 75 VVG ist abdingbar: Bei Versicherung "auf erstes Risiko" wird jeder Schaden ohne Rücksicht darauf, ob Unterversicherung vorliegt, bis zur Versicherungssumme entschädigt.
III. Mehrfachversicherung (§§ 77 ff. VVG)
Rz. 148
Mehrfachversicherung liegt dann vor, wenn dasselbe Interesse gegen dieselbe Gefahr bei mehreren Versicherern gleichzeitig versichert ist und die Versicherungssummen zusammen den Versicherungswert übersteigen (§ 78 Abs. 1 VVG). Eine Mehrfachversicherung setzt voraus, dass die versicherten Gefahren und das Interesse vollständig identisch sind. Liegt eine Überschneidung nur in Teilbereichen vor, so ist auch nur in diesen Teilbereichen von einer Mehrfachversicherung auszugehen.
Wenn der Versicherungsnehmer eine Mehrfachversicherung in betrügerischer Absicht abschließt, um sich einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, so ist jeder Vertrag nichtig, der mit dieser Absicht geschlossen worden ist (§ 78 Abs. 3 VVG).
Die Prämienzahlungspflicht des Versicherungsnehmers bleibt trotz Nichtigkeit der Verträge bestehen, sie endet jedoch zu dem Zeitpunkt, zu dem der Versicherer die Kenntnis von den zur Nichtigkeit führenden Umständen erlangt (§ 78 Abs. 3 VVG).
Bei "einfacher" (= nicht betrügerischer) Mehrfachversicherung kann der Versicherungsnehmer verlangen, dass der später geschlossene Vertrag aufgehoben wird (§ 79 VVG). Bei einfacher Mehrfachversicherung haften die verschiedenen Versicherer gesamtschuldnerisch (anteilmäßig), der Schaden bildet die Obergrenze (§ 78 Abs. 1 VVG). Mehrfachversicherung liegt auch dann vor, wenn der Erwerber der versicherten Sache eine vorläufige Deckung vereinbart hat und der bisherige Vertrag gem. § 95 VVG (§ 69 VVG a.F.) noch fortbesteht.
Kollidierende Subsidiaritätsklauseln heben einander auf, die Regeln über die Mehrfachversicherung (§ 78 VVG) finden Anwendung.