Rz. 25
Eine weitere Rechtsquelle für den auf Ebene der Europäischen Union gewährleisteten Grundrechtsschutz sind gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV die Grundrechte, wie sie in der EMRK normiert sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze. Trotz der Bezugnahme auf die EMRK und die zu ihr ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist die EMRK selbst dadurch nicht Bestandteil des Unionsrechts geworden. Vielmehr sind es die aus ihr heraus entwickelten Grundrechte der Europäischen Union. Diese allgemeinen Grundsätze sind Teil des Primärrechts. Sie bestanden bereits vor Inkrafttreten der GRCh und behalten auch nach deren Inkrafttreten weiter ihre Gültigkeit. Der EMRK und den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten kommt gegenwärtig die Funktion einer Rechtserkenntnisquelle zu. Ob sich die Bedeutung der EMRK als Quelle zur Gewinnung von Grundrechten seit Inkrafttreten der GRCh relativiert hat und weiter relativieren wird, kann noch nicht mit Sicherheit beurteilt werden. Der Europäische Gerichtshof hat sich in seiner neuesten Rechtsprechung sowohl auf die Charta als auch auf Art. 8 EMRK als Rechtserkenntnisquelle bezogen. Sollte sich der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK – wie von Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehen – zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt vollziehen, dürfte dies indes die Bedeutung der EMRK nochmals hervorheben, da sie dann nicht lediglich eine Rechtserkenntnisquelle für die Gewinnung von Grundrechten, sondern sogar eine echte Rechtsquelle des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union wäre.
Rz. 26
Für den Datenschutz bedeutsam ist die in Art. 8 EMRK verbürgte Gewährleistung, in der es heißt:
Art. 8
Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
(1) |
Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. |
(2) |
Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. |
Rz. 27
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg – auf dessen Rechtsprechung der Europäische Gerichtshof in Luxemburg bei der Entwicklung von Grundrechten im Unionsrecht regelmäßig Bezug nimmt – hat hieraus auch ein Grundrecht auf Datenschutz abgeleitet. Dies hat der Europäische Gerichtshof für den Bereich der Europäischen Union übernommen. Bis zum Inkrafttreten der GRCh hat der Europäische Gerichtshof ein europäisches Datenschutzgrundrecht im Wesentlichen allein aus Art. 8 EMRK hergeleitet und fortentwickelt. Auch in seiner aktuellen Entscheidungspraxis nutzt der Gerichtshof zusätzlich zu den Art. 7, 8 GRCh – die er trotz der grundsätzlichen Spezialität des Art. 8 GRCh, aber wohl aus Orientierung des Art. 7 GRCh an Art. 8 EMRK parallel zu prüfen scheint – immer noch Art. 8 EMRK und die dazu ergangene Rechtsprechung als Rechtserkenntnisquelle. Durch die Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ergibt sich für den Bereich des EU-Rechts ein im Wesentlichen mit Art. 8 EMRK vergleichbares Schutzniveau. Bemerkenswert ist aber, dass nach herrschender Auffassung zu Art. 8 EMRK juristische Personen des Privatrechts als Grundrechtsträger anerkannt sind. Auch der Europäische Gerichtshof hat juristischen Personen bereits den aus Art. 8 EMRK abgeleiteten Schutz zugesprochen. Insoweit erscheint es fragwürdig, warum der Gerichtshof sich in seiner neuesten Rechtsprechung darauf beschränkt, nur solchen juristischen Personen den Schutz zuzubilligen, deren Name eine oder mehrere natürliche Personen bestimmt.
Rz. 28
Das vom Europäischen Gerichtshof aus Art. 8 EMRK abgeleitete Datenschutzgrundrecht als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts besteht ebenfalls nicht schrankenlos. Der Gerichtshof hat die in Art. 8 Abs. 2 EMRK normierte Schranke und die hierzu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg auch in seiner eigenen Rechtsprechung argumentativ verwendet. Art. 52 Abs. 3 GRCh greift diesen Umstand im Bestreben auf, eine Kohärenz des Grundrechtsschutzes herzustellen. Soweit die Charta Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, haben sie gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen sind. Über diese Transferklausel fließt auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in die GRCh ein. Die sich daraus ergebenden Begrenzungen sind für das vom Europäischen Gerichtshof zusammen mit Art. 8 GRCh geprüfte Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 7 GRCh ...