Rz. 1

Bei jeder Gestaltung einer Zuwendung – gleich, ob lebzeitig oder auf den Tod – ist es unerlässlich zu wissen, ob und wenn ja, welche Leistungen der sozialen Sicherung der Begünstigte bezieht oder wahrscheinlich beziehen wird. Das gilt umgekehrt auch für einen Zuwendenden mit potenziellem Bezug von nachrangigen Sozialleistungen in der Zukunft. Nur so kann man die Auswirkungen der lebzeitigen Zuwendung oder des Zuflusses aus Erbfall auf den Sozialleistungsbezug abschätzen.

Das Recht der sozialen Sicherung gilt aber allgemein als terra incognita und ungeliebtes Kind unter Juristen. Es gilt als schwierig, sich auch nur einen Einstieg zu verschaffen oder gar einen Überblick. Fragen des sozialrechtlichen Leistungsverhältnisses werden oft als "zu schwer" und deshalb lieber als den Sozialrechtlern zu überlassen empfunden. Aber das kommt dann häufig zu spät.

 

Rz. 2

Das Interesse der anwaltlichen Praxis im Erb- und Schenkungsrecht konzentriert sich deshalb auf den Begriff "Sozialhilfe"-Regress. Man möchte gerne den "Zugriff" des Sozialhilfeträgers vermeiden und beschreibt damit mehr ein "Störgefühl" als eine Rechtsfigur. Der Sozialhilfeträger wird als Gegner des Hilfesuchenden verstanden, der dessen schwer erarbeitetes Einkommen und Vermögen vereinnahmen will, wovor es ihn zu schützen gilt. Umgekehrt nutzen Schenkung und erbrechtliche Zuflüsse nichts, "wenn der Begünstigte gar nichts davon hat und sowieso alles in die Sozialhilfe fließt". Die Praxis hat dieses "Störgefühl" des Bürgers aufgenommen und will deshalb vor allem anderen wissen, wie man "Sozialhilfe"-Regress vermeidet oder sich gegen ihn verteidigt.

 

Rz. 3

Dabei stößt man sogleich auf eine erste Schwierigkeit, denn den Begriff des "Sozialhilfe"-Regresses wird man vergebens suchen. Er existiert weder im SGB XII noch im SGB II und schon gar nicht im Eingliederungshilferecht des SGB IX. Es gibt den Begriff des "Sozialhilfe"-Regresses auch an keiner anderen Stelle im Sozialgesetzbuch. Man stößt allenfalls auf den Begriff der "Selbsthilfe" und den Begriff der "Verpflichtungen anderer". Gemeint ist damit die Rückkehr zu dem Zustand, der unter der Herrschaft des Nachranggrundsatzes bestehen soll. Der Regress ist das Spiegelbild des Leistungsrechts. "Sozialhilfe"-Regress ist eine Form des Leistungsstörungsrechts im sozialrechtlichen Leistungsverhältnis, was bedeutet, dass man Regressregeln nicht ohne die dazu passenden Leistungsregeln in den Griff bekommt.

 

Rz. 4

 

Begriffsdefinition

Der Begriff "Sozialhilfe"-Regress steht für das Prinzip der Eigenverantwortung und der Wiederherstellung des Nachranggrundsatzes.

 

Rz. 5

Die zweite Schwierigkeit besteht in der Vielzahl der Gesetze der sozialen Sicherung, die eine Orientierung und das Auffinden und Zuordnen von Regressvorschriften erschwert, denn nicht nur das klassische Sozialhilferecht des SGB XII – Vorgänger war das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) – kennt Regressregeln, sondern auch eine Vielzahl anderer sozialrechtlicher Normen. Insofern ist der Begriff "Sozialhilfe"-Regress irreführend. Es geht nicht nur um reines Sozialhilferecht.

 

Rz. 6

 

Hinweis

Die Schreibweise "Sozialhilfe"-Regress wird hier gewählt, weil es im Folgenden nicht nur um die klassische Sozialhilfe des § 9 SGB I i.V.m. dem SGB XII geht, sondern auch um eine Reihe anderer Gesetze, die in der einen oder anderen Weise und Form beitragsunabhängig sind, dafür aber den Einsatz eigener Mittel zur Bedarfsdeckung fordern und damit dem Nachrangprinzip – auch "Prinzip der materiellen Subsidiarität" genannt[1] – unterfallen. Diese Gesetze werden national unter dem Begriff der Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) zusammengefasst.[2] Da der Begriff der Fürsorge aber z.T. negativ besetzt ist, wird er hier als Oberbegriff für den Nachrang von sozialen Leistungen gegenüber dem Einsatz von eigenem Einkommen und Vermögen nicht benutzt. Vielmehr lehnt sich der Begriff des "Sozialhilfe"-Regresses mehr an ein Leistungsverständnis an, wie es z.T. in europarechtlichen Normen benutzt wird und wonach z.B. auch das SGB II "Sozialhilfe" für erwerbsfähige Personen ist.[3]

 

Rz. 7

Zu guter Letzt besteht die dritte Schwierigkeit der Orientierung und Handhabung darin, dass nicht alles, was auf den ersten Blick so aussieht, als könne es eine "Sozialhilfe"-Regress-Situation sein oder werden, auch tatsächlich ein Fall des "Sozialhilfe"-Regresses ist. Die rechtssichere Navigation wird nämlich zusätzlich dadurch erschwert, dass soziale Sicherung nicht nur durch sozialrechtliche Normen, sondern z.B. auch aufgrund privater Versicherungen und/oder öffentlich-rechtlicher Sonderbeziehungen erfolgt, die die Anwendung der klassischen öffentlich-rechtlichen sozialrechtlichen Normen verdrängen.

 

Rz. 8

Orientierung und Überblick tun daher not. Dazu folgt an dieser Stelle kein Glossar, das nach der ersten Auflage dieses Buches angeregt worden war. Zur Orientierung und Navigation folgt ein Überblick über die "Landkarte der sozialen Sicherung", der Strukturen und einzelne Inhalte aufzeigt. Bei welchem konkreten L...

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