Rz. 41
Arbeitgeber erwarten generell und werden darin durch die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung bestätigt, dass jeder Arbeitnehmer vermeintliches Fehlverhalten des Arbeitgebers selbst, eines Vorgesetzten oder Kollegen zuerst unternehmensintern anzeigt, bevor er hiermit an die Öffentlichkeit geht und es insbesondere im Web 2.0 veröffentlicht (so genanntes "Whistleblowing"). Dienstanweisungen bzw. Betriebsvereinbarungen zu diesem Thema sind üblich und zu empfehlen, da die Meldepflichten dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG unterliegen. Gerade bei Äußerungen im Internet ist die Gefahr des Kontrollverlustes sehr hoch. Die schnelle Verbreitung von Informationen, der nicht steuerbare Empfängerkreis sowie die langfristige Speicherung und Abrufbarkeit steigern das Risiko, dass eine negative Äußerung erhebliche nachteilige Auswirkungen für den Arbeitgeber haben kann.
Rz. 42
Die vom Arbeitnehmer vorgenommene Meldung von Gesetzesverstößen oder anderem Fehlverhalten bei der Polizei bzw. Staatsanwaltschaft prüft die Rechtsprechung darauf hin, ob die Anzeige eine unverhältnismäßige Reaktion des Arbeitnehmers auf das Verhalten des Arbeitgebers darstellt. Hierbei ist das BAG der Ansicht, dass der vorherigen innerbetrieblichen Klärung nicht generell der Vorrang gebührt. Es sei vielmehr Sache des Einzelfalls, wann dem Arbeitnehmer eine vorherige innerbetriebliche Anzeige ohne weiteres zumutbar sei und ein Unterlassen ein pflichtwidriges Verhalten darstellt.
Eine vorherige innerbetriebliche Meldung und Klärung ist dem Arbeitnehmer u.a. nicht zumutbar, wenn er Kenntnis von Straftaten erhält, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde.
Beispiel
Plant ein Arbeitnehmer, das Betriebsgelände seines Arbeitgebers in Brand zu setzen, weil er sich über einen Vorgesetzten massiv geärgert hat, würde sich der Kollege, der hiervon Kenntnis erlangt, nach § 138 Abs. 1 Nr. 8 StGB selbst strafbar machen, wenn er die Tat nicht den Strafverfolgungsbehörden anzeigt.
Rz. 43
Entsprechendes gilt bei schwerwiegenden Straftaten (z.B. Gammelfleischskandal) oder vom Arbeitgeber selbst begangene Straftaten. Weiter trifft den Arbeitnehmer keine Pflicht zur internen Meldung, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist.
Beispiel
Hat der Arbeitgeber Kenntnis davon, dass in seinem Unternehmen Straftaten, z.B. Bestechung und Untreue, begangen werden, billigt dies aber seit Jahren, kann der Arbeitnehmer berechtigterweise davon ausgehen, dass innerbetriebliche Abhilfe nicht zu erwarten ist.
Rz. 44
In diesem Zusammenhang ist auch auf eine 2011 ergangene Entscheidung des EGMR hinzuweisen, mit der die Meinungsfreiheit der Arbeitnehmer gestärkt wurde. Einer Altenpflegerin war aufgrund einer Strafanzeige gegen ihre Arbeitgeberin fristlos gekündigt worden. Ihre Anzeige wegen Betruges hatte sie damit begründet, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörigen wegen Personalmangels keine angemessene Gegenleistung für die von ihnen getragenen Kosten erhielten.
Rz. 45
Der EGMR hielt in seiner Entscheidung zunächst fest, dass einerseits Strafanzeigen von Arbeitnehmern gegen Arbeitgeber unter bestimmten Umständen von der Meinungsfreiheit gedeckt sein könnten, andererseits Arbeitnehmer ihrem Arbeitgeber zu Loyalität und Verschwiegenheit verpflichtet seien. Hieraus folge, dass der Arbeitnehmer grundsätzlich verpflichtet sei, zunächst für innerbetriebliche Abhilfe zu sorgen, wenn ein solcher Versuch nicht offensichtlich aussichtslos sei. Bei der im Falle einer Kündigung stets vorzunehmenden Interessenabwägung kam der Gerichtshof im konkreten Fall allerdings zu dem Ergebnis, dass insbesondere die Meinungsfreiheit der Arbeitnehmerin höher zu bewerten war als die Sorge der Arbeitgeberin um nachteilige Auswirkungen für ihr Unternehmen. Dabei rückte der EGMR maßgeblich das öffentliche Interesse an der Meldung der Missstände in den Vordergrund. In einer demokratischen Gesellschaft sei das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der institutionellen Altenpflege so wichtig, dass es gegenüber den Interessen eines einzelnen Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsbelange überwiege. Zudem habe die Mitarbeiterin die Missstände wiederholt intern angezeigt und der Staatsanwaltschaft nicht wissentlich oder leichtfertig falsche Informationen übermittelt.
Rz. 46
Nach Ansicht des BVerfG soll die Judikative des EGMR als Auslegungshilfe für die Grundrechte dienen. Es gehe jedoch nicht um eine "schematische Parallelisierung" einzelner verfassungsrechtlicher Begriffe. Vielmehr solle die Rechtsprechung möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem eingepasst werden.
Rz. 47
Die nationalen Gerichte haben sich somit daran zu orientieren, in welchem Umfang ein öffentliches Interesse an den zu Tage getretenen Missständen besteht. Der Versuch unternehmensinterner Klärung könnte zunehmend verzichtbar werden, wenn die...