a) Allgemeines
Rz. 324
Neben der Auslegung letztwilliger Verfügungen ist die Anfechtung von erheblicher praktischer Bedeutung. Für eine Anfechtung bleibt aber grundsätzlich nur dann Raum, wenn der Wille des Erblassers nicht durch Auslegung ermittelt werden kann. Daher hat sowohl die erläuternde als auch die ergänzende Auslegung immer Vorrang vor einer möglichen Anfechtung. "Auslegung reformiert, Anfechtung kassiert". Weil grundsätzlich dem Erblasserwillen zum Erfolg verholfen werden soll (vgl. § 2084 BGB), hat die Auslegung Vorrang vor der Anfechtung.
Rz. 325
Bei der Anfechtung letztwilliger Verfügungen steht aufgrund der Verfügungsfreiheit immer der Wille des Erblassers im Vordergrund, dem gegenüber die Interessen der Bedachten unterzuordnen sind.
Rz. 326
Die allgemeinen Anfechtungsvorschriften der §§ 119 ff. BGB werden deshalb durch besondere Anfechtungsregeln des Erbrechts verdrängt (§§ 2078, 2079, 2281 BGB). Die wichtigsten Unterschiede bei der Anfechtung nach den §§ 2078, 2079 BGB liegen zum einen darin, dass nicht der Urheber einer Willenserklärung, also der Erblasser, die Anfechtung erklärt, sondern ein Dritter (§ 2080 BGB), und zwar derjenige, dem der Wegfall der betreffenden Verfügung unmittelbar zustatten kommen würde. Zum anderen besteht ein Unterschied in den Anfechtungsgründen –, so erweitert § 2078 Abs. 2 BGB die Anfechtungsgründe dahingehend, dass auch der reine Motivirrtum des Erblassers ein Anfechtungsrecht begründet. Schadensersatzansprüche des allgemeinen Anfechtungsrechts sind ausgeschlossen, § 122 BGB. Eine weitere Besonderheit im Gegensatz zu der Anfechtung von Willenserklärungen nach §§ 119 ff. BGB ist die längere Anfechtungsfrist von einem Jahr gemäß §§ 2082, 2283 BGB.
Rz. 327
Der Anwendungsbereich des § 2078 BGB erstreckt sich auch auf die Rücknahme eines Testaments aus der amtlichen Verwahrung und dem darin liegenden Widerruf des Testaments sowie auf ein Schenkungsversprechen auf den Todesfall gemäß § 2301 BGB. Streitig ist dies aber für den Übergabevertrag im Rahmen der vorweggenommenen Erbfolge.
Rz. 328
Die Beweislast für das Vorliegen eines der oben genannten Anfechtungsgründe obliegt grundsätzlich dem Anfechtenden, mit Ausnahme der Anfechtung wegen Hinzutretens eines bisher nicht vorhandenen oder nicht bekannten Pflichtteilsberechtigten gem. § 2079 BGB. In diesem Fall wird der Irrtum des Erblassers vom Gesetz vermutet, § 2079 BGB enthält also eine Beweislastumkehr. Diese Funktion ist der einzige Zweck von § 2079 BGB, denn dieser spezielle Sachverhalt beinhaltet einen Motivirrtum i.S.v. § 2078 Abs. 2 BGB, so dass schon unter diesem Gesichtspunkt ein Anfechtungsrecht bestünde.
b) Die Anfechtungsvoraussetzungen
Rz. 329
In § 2078 Abs. 1 BGB sind die gleichen Tatbestände wie in § 119 Abs. 1 BGB, der Inhalts- und Erklärungsirrtum, geregelt, so dass insoweit die Grundsätze der §§ 119 ff. BGB entsprechend anzuwenden sind.
Rz. 330
Beispiele für einen Erklärungsirrtum sind das Verschreiben beim eigenhändigen Testament (§ 2247 Abs. 1 BGB), der Irrtum des Ehegatten beim gemeinschaftlichen Testament über den Wortlaut der von ihm mitunterschriebenen Verfügung (§ 2267 Abs. 1 BGB), der Irrtum über den Wortlaut der dem Notar übergebenen Verfügung (§ 2232 S. 2 BGB) bzw. der von diesem errichteten Niederschrift (§ 2232 S. 1 BGB) oder die Tatsache, dass der Erblasser eigentlich nur ganz unverbindlich seine Überlegungen zur Regelung des Nachlasses festhalten wollte, tatsächlich aber ein formgültiges eigenhändiges Testament geschaffen hat.
Rz. 331
Bei einem Inhaltsirrtum irrt sich der Erblasser etwa über die rechtliche Bedeutung der Vor- und Nacherbeneinsetzung, über das Vorhandensein einer erbvertraglichen Bindung, über die gesetzliche Erbfolge oder über die Widerrufswirkung der Rücknahme eines öffentlichen Testaments aus der besonderen amtlichen Verwahrung gemäß § 2256 BGB.
Rz. 332
Ein Irrtum über die Rechtsfolgen einer letztwilligen Verfügung berechtigt im Grundsatz nur dann zur Anfechtung, wenn er sich insoweit auf wesentliche Rechtsfolgen und damit auf die Rechtsnatur als solche bezieht.
Rz. 333
Ein Inhaltsirrtum ist dann erheblich, wenn im Hinblick auf den Zweck der Anfechtung und unter Zugrundelegung der subjektiven Denk- und Anschauungsweise des Erblassers die Verfügung unterblieben wäre, wobei sittenwidrige Zielvorstellungen nicht zu berücksichtigen sind. Der Irrtum muss also kausal gewesen sein für die vom Erblasser getroffene Verfügung. Erforderlich ist aber weiter, dass der Irrtum so gewichtig ist, dass er der Verfügung ihre "innere Rechtfertigung" nimmt.
Rz. 334
§ 2078 Abs. 2 BGB behandelt die Anfechtung wegen widerrechtlicher Drohung entsprechend § 123 BGB. D...