Rz. 233
Für die vor dem Bekanntwerden des EGMR-Urteils, also vor dem 29.5.2009 eingetretenen Erbfälle verbleibt es bei der bisherigen Gesetzeslage, d.h. die Zeitgrenze 1.7.1949 bleibt bestehen, Art. 12 § 10 Abs. 1 NEhelG in der Fassung des Zweiten ErbRGleichG. Hier sind Zweifel erlaubt, ob diese Regelung für alle Fälle den Anforderungen der EMRK entspricht. Der vom EGMR entschiedene Fall wäre nämlich nicht erfasst, denn dort war der Erbfall vor dem 29.5.2009 eingetreten. Allerdings werden durch die Neuregelung die statistisch häufigsten Fälle erfasst sein, wenn man die statistische Lebenserwartung der nichtehelichen Väter in die Betrachtung mit einbezieht.
Rz. 234
Für die vor dem 29.5.2009 eingetretenen Erbfälle bestand lange Rechtsunsicherheit, weil nicht eindeutig gesagt werden konnte, ob die Neuregelung den Anforderungen der EMRK entspricht. Mit Urt. v. 23.3.2017 hat der EGMR jedoch festgestellt, dass auch bei Erbrechtsfällen vor dem Stichtag 29.5.2009 unter bestimmten Voraussetzungen eine Verletzung der EMRK bestehen kann.
Eine solche Verletzung könne sich nicht lediglich aus Art. 14 EMRK, dem Diskriminierungsverbot i.V.m. Art. 8 EMRK, dem Schutz der Familie, sondern auch aus Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 1 Zusatzprotokoll zur EMRK, dem Schutz des Eigentums, ergeben.
Bei der Prüfung, ob die deutschen Gerichte mit der strikten Anwendung des Stichtags unter den besonderen Umständen des Falls einen gerechten Ausgleich zwischen den betroffenen widerstreitenden Interessen hergestellt haben, müssen nach Auffassung des EGMR im Rahmen der Verhältnismäßigkeit folgende Gesichtspunkte berücksichtigt werden:
1. |
Die Kenntnis der Betroffenen von anderen Abkömmlingen |
2. |
Die noch mögliche Anfechtbarkeit der erbrechtlichen Ansprüche |
3. |
Zeitnahe Geltendmachung des Anspruchs |
4. |
Keine Ansprüche auf finanzielle Entschädigung für den Ausschluss des Erbrechts. |
Rz. 235
Bei Vorliegen dieser Kriterien muss der Schutz der berechtigten Erwartung der Erblasser und ihrer Familien dem Gebot der Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder untergeordnet werden.
Im Einzelnen:
Zu 1. Indizien für die Kenntnis des Erben von dem nichtehelichen Kind sind beispielsweise, wenn die Erbenstellung streitig war, ein Erbschein zunächst auf das nichteheliche Kind ausgestellt wurde oder dieses den Besitz des Erbes eine Zeit lang innehatte.
Zu 2. Die Verjährung und damit die Anfechtbarkeit der erbrechtlichen Ansprüche beträgt in den einschlägigen Fällen gem. § 197 Abs. 1 Nr. 2 BGB i.V.m. § 2018 BGB 30 Jahre. Erst nach deren Ablauf darf sich der Erbe sicher sein, das Erbe behalten zu dürfen; zuvor besteht ein lediglich relativer Vertrauensschutz.
Zu 3. In denen vom EGMR im Jahre 2017 zu beurteilenden Fällen haben die Beschwerdeführer zwei Monate nach dem Erlass des Urteils Brauer/Deutschland vom 28.5.2009 ihre Rechte geltend gemacht, welche sich aus diesem Urteil neu für sie erschlossen. Somit konnte ihnen keine zeitliche Verzögerung der Geltendmachung ihrer Rechte und der gleichzeitigen Förderung des Vertrauensschutzes der Familie des Erblassers vorgeworfen werden. Bei Fällen, bei denen kein "Familienleben" bestand und somit kein Schutz des Art. 8 EMRK greift – wie dies in dem Urteil Brauer/Deutschland der Fall war – dürfte nunmehr der Erlass des Urteils Wolter u. Sarfert/Deutschland vom 23.3.2017 für das Bestimmen der zeitlichen Grenze entscheidend sein. Denn erst ab dem Zeitpunkt dieser Entscheidung steht für nichteheliche Kinder ohne familiären Bezug zu dem Erblasser fest, dass auch sie aufgrund des Schutzes von Art. 14 EMRK i.V.m. Art. 1 Zusatzprotokoll zur EMRK erbrechtliche Ansprüche haben können.
Zu 4. Eine finanzielle Entschädigung für den Ausschluss des Erbrechts fehlt insbesondere dann, wenn das Fiskus- Erbrecht gem. § 1936 BGB nicht besteht, da nur in diesem Fall gem. Art. 1 Nr. 2 ZwErbGleichG i.V.m. § 10 Abs. 2 S. 1 NEhelG ein Anspruch auf Entschädigung besteht.
Rz. 236
Der BGH nahm die vom EGMR statuierten Kriterien in seinem Beschl. v. 12.7.2017 derart auf, dass er von einer teleologischen Erweiterung von Art. 5 S. 2 des Zweiten Erbrechtsgleichstellungsgesetzes ausgeht. Das bedeutet, dass die Stichtagsregelung nicht starr, sondern konventionsfreundlich auszulegen ist, sodass auch Erbfälle vor dem 29.5.2009 erbrechtlich zugunsten der nichtehelichen Kinder ausfallen können, soweit die soeben dargestellten Kriterien erfüllt sind.