Rz. 153
In der praktischen Schadensregulierung wird immer vergessen, bei den Unterhaltsansprüchen der Waisen neben dem Barunterhalt auch den Betreuungsunterhalt geltend zu machen. Dazu gehört neben der Haushaltsführung vor allem die Beaufsichtigung und die Erziehung der Kinder. Das bedeutet z.B. bei Kleinkindern eine tägliche Rundumbetreuung, regelmäßig also unter Berücksichtigung von Schlafzeiten von etwa 14 Stunden (Schah Sedi/Schah Sedi, Das verkehrsrechtliche Mandat, Bd. 5, § 4 Rn 155).
Rz. 154
Der Betreuungsunterhaltsschaden ist – ebenso wie der Haushaltsführungsschaden bei der Witwe bzw. dem Witwer – von erheblicher finanzieller Bedeutung. Er umfasst denjenigen Anteil, den der Getötete im Rahmen seiner familienrechtlichen Verpflichtungen und Möglichkeiten auf die Betreuung und immaterielle Versorgung seiner Kinder zeitlich und persönlich investiert hätte. Minderjährige Kinder haben ein Recht auf Betreuung (BGH NJW 1994, 2234).
Rz. 155
Der Betreuungsunterhaltsschaden einer Waise ist demzufolge stets neben dem Barunterhalt konkret oder fiktiv zu errechnen und ggf. zu kapitalisieren (vgl. § 11 Rdn 1 ff.). Das Ende der notwendigen Betreuung dürfte regelmäßig bei 18 Jahren liegen, individuelle Besonderheiten mögen eine Abweichung rechtfertigen, z.B. bei geistig oder körperlich behinderten Kindern. Diese bis zum Ende der Ausbildung anzusetzen, bedarf im Einzelfall der Begründung und kann wohl nur noch marginale Bedeutung haben.
Rz. 156
Der geschädigte betreuungsunterhaltsberechtigte Hinterbliebene kann – neben einer gesonderten Haushaltshilfe – entweder eine bezahlte Ersatzkraft einstellen oder den Wert der entgangenen Betreuungsleistung ersetzt verlangen. Art und Umfang der Betreuungsleistungen können höchst unterschiedlich ausfallen, je nach den Besonderheiten in der Familie. Kleinkinder oder behinderte Kinder benötigen einen höheren Betreuungsunterhalt als gesunde oder besonders früh entwickelte Kinder.
(1) Eingestellte konkrete Ersatzkraft
Rz. 157
Wird eine konkrete Ersatzkraft (Kindermädchen, Tagesmutter) eingestellt, die der getöteten Person in Qualifikation und Qualität sowie Dauer des täglichen Betreuungsaufwandes vergleichbar ist, ist der Bruttoaufwand für eine solche Ersatzkraft zu zahlen. Das gilt auch bei der Einstellung bzw. Beschäftigung von Verwandten.
(2) Wertberechnung bei fiktiver Berechnung
Rz. 158
Zunächst ist auch hier (wie beim Haushaltsführungsschaden) der Zeitbedarf zu errechnen.
In Ermangelung eines gesonderten diesbezüglichen Tabellenwerkes (wie z.B. die Tabelle Schulz-Borck/Hofmann für den Haushaltsführungsschaden) muss der diesbezügliche Aufwand individuell ermittelt bzw. nach § 287 ZPO geschätzt werden. Dabei kann aber durchaus die Tabelle "Schulz-Borck/Pardey" (vgl. § 9 Rdn 514 ff.), dort dann die Tabelle 1, ebenso herangezogen werden wie bei der Berechnung des Haushaltsführungsschadens. Der Zeitbedarf der Eigenversorgung der getöteten Person ist dabei abzuziehen, indem der jeweilige "reduzierte Haushalt" gem. vorgenannter Tabelle zugrunde gelegt wird. Außerdem ist die familienrechtliche Mithilfepflicht abzuziehen.
Rz. 159
Bei der Ermittlung des finanziellen Ersatzes kann wiederum die Einschätzung nach TVöD gem. der vorgenannten Haushaltsführungstabelle verwendet werden.
Rz. 160
Der so errechnete Wert des Zeitbedarfes ist dann auf die Restfamilie nach Quoten aufzuteilen.
Rz. 161
Das bedeutet dann für den mit einem Kleinkind, einem behinderten Kind und einem frühreifen Kind hinterbliebenen Witwer zum Beispiel:
Wert des auszugleichenden Betreuungszeitbedarfs |
900 EUR |
Anteil Kleinkind 40 % |
360 EUR |
Anteil behindertes Kind 50 % |
450 EUR |
Anteil frühreifes Kind 10 % |
90 EUR |
Der Anspruch auf Ersatz des Betreuungsschadens endet in der Regel mit dem Erreichen der Volljährigkeit, spätestens aber mit dem Ende der Ausbildung.
Tipp
In Schadensfällen mit vorhandenen Waisen nie vergessen, dass neben dem Barunterhaltsschaden stets der Betreuungsunterhaltsschaden errechnet und geltend gemacht werden muss.
Rz. 162
Müssen die verwaisten Kinder auswärtig untergebracht werden, sind auch diese Kosten zu ersetzen (LG Duisburg VersR 1985, 698). Dabei ist aber in besonderem Maße auf die Schadensminderungspflicht zu achten, d.h. es darf wegen der beruflichen und familiären Situation keine andere Möglichkeit der Unterbringung offenstehen und die Kosten müssen dem bisherigen Lebensstandard entsprechen.
Rz. 163
Soweit im Falle der Wiederverheiratung des Witwers eine (neue) Stiefmutter die Pflege der Waisen übernimmt, kann sich das nicht zu deren Lasten auswirken und mindert somit nicht den Schadensersatzanspruch der Waisen (§ 844 i.V.m. § 843 Abs. 4 BGB). Der Betreuungsschaden der Halbwaisen entfällt dadurch also nicht vollständig.