Stephan Kohlhaas, Phillip Hartmann
Rz. 153
Auch nach der VVG-Reform 2008 bleibt es grundsätzlich dabei, dass der Geschädigte den Versicherer des Anwalts nicht direkt in Anspruch nehmen kann. Er muss seinen vermeintlichen Haftpflichtanspruch zunächst unmittelbar gegen den Anwalt bzw. die Berufsausübungsgesellschaft geltend machen und verfolgen. Erst nach rechtskräftiger Titulierung seines Schadensersatzanspruchs gegen den Rechtsanwalt sowie Pfändung und Überweisung dessen Deckungsanspruchs gegen den Berufs-Haftpflichtversicherer kann der Geschädigte daher unmittelbar den Haftpflichtversicherer des Anwalts auf Gewährung von Deckungsschutz in Anspruch nehmen.
In diesem Zusammenhang kann jedem "Beteiligten" an einem Haftpflichtfall (Anwalt, Geschädigter und Versicherer des Anwalts) nur geraten werden, Trennungsprinzip, Bindungswirkung und Voraussetzungsidentität zu beachten. Grundsätzlich ist dem Trennungsprinzip folgend zu differenzieren zwischen der Haftung einerseits (Haftet der Anwalt? Auf welcher tatsächlichen und rechtlichen Grundlage?) und der Deckung (Besteht hierfür Versicherungsschutz?). Vor diesem Hintergrund stellt sich in entsprechenden Sachverhaltskonstellationen die Frage, ob das Gericht des Deckungsrechtsstreits an die Feststellungen des Gerichts des Haftungsrechtsstreits gebunden ist. Dies ist zu bejahen, wenn durch den Haftpflichtprozess eine Bindungswirkung aufgrund einer Voraussetzungsidentität von Tatbestandsmerkmalen/rechtlichen Bewertungen oder dgl. eingetreten ist.
Beispiel
Aus der Klageschrift ergibt sich, dass der Anwalt möglicherweise bewusst pflichtwidrig gehandelt hat und dem Mandanten dadurch ein Schaden entstanden ist. Der Versicherer sieht in dem Verhalten eine wissentliche Pflichtverletzung (siehe hierzu Rdn 139 ff.). Das Gericht des Haftpflichtprozesses verurteilt den Anwalt zum Schadensersatz aus § 280 BGB – wegen schuldhafter Pflichtverletzung – und lässt die Frage des Verschuldensmaßstabs offen, weil dies für die Haftung irrelevant ist; denn § 280 BGB setzt nicht voraus, dass der Anwalt wissentlich oder gar vorsätzlich gehandelt hat.
Danach ist die Voraussetzungsidentität nicht gegeben und dementsprechend auch keine Bindungswirkung entstanden. Der Versicherer kann sich im Deckungsrechtsstreit auf den Ausschlusstatbestand der wissentlichen Pflichtverletzung berufen.
Rz. 154
Ein Direktanspruch des Geschädigten gegen den Berufs-Haftpflichtversicherer des Anwalts ist ausnahmsweise nur in den Fällen und Grenzen des § 115 VVG möglich; also für die Fälle
▪ |
der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Versicherungsnehmers oder |
▪ |
der Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder |
▪ |
der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters oder |
▪ |
wenn der Aufenthaltsort des Versicherungsnehmers unbekannt ist. |
Rz. 155
Seit Inkrafttreten der Neuregelung ist nur eine unbedeutende Anzahl von entsprechenden "Direktansprüchen" bekannt geworden. Die früher im Hinblick auf § 115 VVG in der Literatur diskutierten Probleme dürften sich durch die BRAO-Reform mit der Einführung der Versicherungspflicht für anwaltliche Berufsausübungsgesellschaften weitgehend erledigt haben. Da vor der BRAO-Reform Berufsausübungsgesellschaften selbst nicht versicherungspflichtig waren, wohl aber der jeweilige Rechtsanwalt (§ 51 BRAO), konnte sich § 115 VVG nur auf den einzelnen Anwalt beziehen, nicht aber auf die Sozietät. Andererseits hatte die Sozietät bereits nach alter Rechtslage im Rahmen sog. Sozietätspolicen Versicherungsnehmerstellung. Durch die Einführung der Versicherungspflicht für alle Berufsausübungsgesellschaften ist dieses Spannungsfeld aufgelöst. Lediglich § 115 Abs. 1 Nr. 3 VVG (unbekannter Aufenthaltsort des Versicherungsnehmers) dürfte für Berufsausübungsgesellschaften generell nicht einschlägig sein.
Vorerst ist jedenfalls damit zu rechnen, dass die praktische Bedeutung des Direktanspruchs gem. § 115 Abs. 1 VVG auch weiterhin gering bleiben wird.