Stephan Kohlhaas, Phillip Hartmann
Rz. 58
Nach ständiger Rechtsprechung des BGH und schon des RG gehört es zu den anwaltlichen Obliegenheiten, dem Gebot des sichersten Weges höchste Priorität zukommen zu lassen, d.h. der Anwalt muss bei allem, was er tut den "sichersten" bzw. den "sichereren" oder – nach neuerer Diktion – den "relativ sichersten" Weg aufzeigen. Dieses Gebot zieht sich wie ein roter Faden durch die Rechtsprechung und Literatur zu Fragen der Anwaltshaftung.
Nach diesem Grundsatz muss der Rechtsanwalt von mehreren in Betracht kommenden Vorgehensweisen immer diejenige dem Mandanten anraten, mit der sich voraussehbare und vermeidbare Nachteile für den Mandanten mit der höchsten Wahrscheinlichkeit vermeiden lassen, die also die geringsten Risiken birgt. Der sicherste Weg muss keineswegs der zweckmäßigste Weg sein. Auf die Mithilfe des Gerichts aufgrund der richterlichen Fürsorgepflicht nach § 139 ZPO darf sich der Anwalt bei der Erfüllung dieser anwaltlichen Pflicht nicht verlassen.
Rz. 59
Unzähligen Haftungsurteilen liegt der Vorwurf zugrunde, dass der Anwalt nicht dem Gebot des sichersten Weges gefolgt ist. Er muss stets die für seinen Mandanten ungünstigste denkbare Alternative in seine Überlegungen einbeziehen, dem Mandanten darlegen und ihm die diejenige Handlungsalternative anraten, bei der dessen Schädigung mit größtmöglicher Sicherheit vermieden wird. Klärt er den Mandanten – gerade in Fällen steuergestaltender Beratung – allerdings unmissverständlich darüber auf, dass ein optimales (Wunsch-)Ergebnis des Mandanten mit größten Risiken behaftet ist, kommt eine Haftung des Anwalts oder Steuerberaters nicht in Betracht, wenn der Mandant, in vollem Umfang aufgeklärt, den riskanten Weg beschreiten will. In derartigen Ausnahmefällen ist eine akribische Dokumentation auch der Motive unverzichtbar.
Beispiel
Der Anwalt sollte sich zur Wahrung der Frist einer Kündigungsschutzklage daher immer an dem Zeitpunkt ausrichten, an dem erstmals die Kündigung ausgesprochen (auch im wahrsten Sinne des Wortes) wurde. Insoweit sollte der Anwalt auch "misstrauisch" sein, wenn der Mandant ihm erklärt, ihm sei mehrfach gekündigt worden.
Beispiel: Reisevertragsrecht
Bei den Oberlandesgerichten herrschte wenig Einigkeit, ob es sich bei der Anmeldung von Ansprüchen nach Reisevertragsrecht gem. § 651g BGB um eine empfangsbedürftige Willenserklärung handelt oder nicht. In einer solchen Konstellation muss der Anwalt, der entsprechende Ansprüche für seinen Mandanten geltend macht, vor Ablauf der Frist des § 651g BGB eine Vollmacht vorlegen. Das Gebot des sichersten Weges verlangt daher, stets eine Original-Vollmachtsurkunde vorzulegen, um jedes Risiko für seine Mandanten auszuschließen.
Beispiel: Diktion des Anwalts
Das Gebot des sichersten Weges verlangt vom Anwalt, dass er stets eine unmissverständliche Sprache spricht. Will der Anwalt im Namen seines Mandanten einen Leasingvertrag kündigen, dann darf er nicht von "Rücktritt" sprechen, wenn er vermeiden will, dass das Gericht nicht später alles andere, aber keine Kündigung in dem Schreiben erblickt.
Beispiel: Hinweis auf mögliche Sicherungsmaßnahmen
Der Grundsatz des sichersten Wegs erfordert vom Anwalt, auch alle in Betracht kommenden Sicherungsmaßnahmen in Betracht zu ziehen, die die Vollstreckbarkeit von Ansprüchen seines Mandanten sicherstellen.