Rz. 496
Zitat
StVO § 8 Abs. 1; StVG § 17 Abs. 1
Der Benutzer einer bevorrechtigten Straße ist gegenüber Verkehrsteilnehmern, die auf einer einmündenden oder die Vorfahrtsstraße kreuzenden nicht bevorrechtigten Straße herankommen, so lange vorfahrtsberechtigt, bis er die Vorfahrtsstraße mit der ganzen Länge seines Fahrzeugs verlassen hat.
a) Der Fall
Rz. 497
Die Parteien stritten um Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall am 25.8.2009 zwischen einem Bus und einem Pkw. Die Klägerin war Halterin und Eigentümerin des Busses, der vom Drittwiderbeklagten gefahren wurde. Der Beklagte zu 1 war Fahrer und Halter des bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw.
Zum Unfallzeitpunkt befuhr der Drittwiderbeklagte mit dem Bus die vorfahrtsberechtigte T. Straße. Der Beklagte zu 1 befuhr die untergeordnete S. Straße und wollte an der Einmündung zur T. Straße in diese nach links abbiegen (Zeichen 205 StVO). Aus Sicht des Drittwiderbeklagten befand sich unmittelbar nach der S. Straße parallel zur vorfahrtsberechtigten T. Straße eine Bushaltestelle. Um diese anzufahren, überfuhr der Drittwiderbeklagte mit dem Bus etwas die seinen Fahrstreifen begrenzende unterbrochene Linie zur S. Straße. Dabei kam es zur Kollision mit dem an die Vorfahrtsstraße heranfahrenden Pkw des Beklagten zu 1.
Rz. 498
Die Parteien machten im Wege der Klage und Widerklage wechselseitig Schadensersatzansprüche geltend. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben und die Beklagten gesamtschuldnerisch verurteilt, an die Klägerin 9.493,30 EUR nebst Zinsen sowie weitere 810,10 EUR vorgerichtliche Anwaltskosten nebst Zinsen zu zahlen. Die Widerklage des Beklagten zu 1 hat es abgewiesen. Mit der Berufung haben die Beklagten einen Haftungsanteil von 25 % anerkannt und der Beklagte zu 1 die Widerklageforderung auf 75 % begrenzt. Sie haben beantragt, das Urteil des Landgerichts abzuändern und die Beklagten unter Abweisung der Klage im Übrigen als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin 2.373,33 EUR nebst Zinsen zu zahlen sowie die Widerbeklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Beklagten zu 1 3.136,01 EUR nebst Zinsen zu zahlen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgten die Beklagten ihre im Berufungsverfahren gestellten Anträge weiter.
b) Die rechtliche Beurteilung
Rz. 499
Die Ausführungen des Berufungsgerichts hielten der revisionsrechtlichen Überprüfung im Wesentlichen stand.
Entgegen der Auffassung der Revisionen hatte das Berufungsgericht mit Recht ein Vorfahrtsrecht des Busses angenommen, auch wenn dieser die als Fahrbahnbegrenzung dienende unterbrochene Linie überfuhr, um die Haltestelle zu erreichen.
Gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 StVO in der hier maßgeblichen Fassung vom 22.3.1988 hat an Kreuzungen und einer – hier vorliegenden – Einmündung Vorfahrt, wer von rechts kommt. Das gilt nicht, wenn die Vorfahrt – wie hier durch das Zeichen 205 – besonders geregelt ist (§ 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVO). Wer die Vorfahrt zu beachten hat, muss rechtzeitig durch sein Fahrverhalten, insbesondere durch mäßige Geschwindigkeit, erkennen lassen, dass er warten wird. Er darf nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den, der die Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert (§ 8 Abs. 2 S. 1, 2 StVO a.F.).
Die gesetzliche Vorfahrtsregelung soll den zügigen Verkehr auf bevorrechtigten Straßen gewährleisten und damit durch klare und sichere Verkehrsregeln auch der Sicherheit des Straßenverkehrs dienen. Das Vorfahrtsrecht erstreckt sich auf die gesamte Fläche der Kreuzung oder des Einmündungsbereichs. Der Vorfahrtsbereich wird bei rechtwinklig einmündenden Straßen und bei rechtwinkligen Straßenkreuzungen von den Fluchtlinien der Fahrbahnen beider Straßen gebildet. Bei einer trichterförmig erweiterten Einmündung erstreckt sich die Vorfahrt nicht nur auf das durch die Fluchtlinie der Fahrbahnen beider Seiten gebildete Einmündungsviereck, sondern umfasst auch die ganze bis zu den Endpunkten des Trichters erweiterte bevorrechtigte Fahrbahn.
Rz. 500
Nach dieser Rechtsprechung hat der Fahrer, der dem Verlauf einer nach links abknickenden Vorfahrtsstraße nicht folgt, sondern geradeaus weiterfährt, in dem gesamten Kreuzungsbereich die Vorfahrt gegenüber dem von rechts kommenden Verkehr. Eine Markierung des Verlaufs des bevorrechtigten Straßenzugs auf der Kreuzung durch eine rechtsseitig verlaufende bogenförmige unterbrochene weiße Linie ändert nichts am Umfang der Vorfahrtsberechtigung. Vielmehr beschränkt sich die Bedeutung der Markierung darauf, den Verkehrsteilnehmern zur Erleichterung der Orientierung den Verlauf des bevorrechtigten Straßenzuges anzuzeigen. Der Benutzer einer bevorrechtigten Straße ist gegenüber den Verkehrsteilnehmern, die auf einer einmündenden oder die Vorfahrtsstraße kreuzenden nicht bevorrechtigten Straße herankommen, auch dann vorfahrtsberechtigt, wenn er in diese Straße einbiegt, und zwar so lange, bis er die Vo...