Rz. 173
Das Berufungsurteil hielt den Angriffen der Revision im Ergebnis stand.
Das Berufungsgericht war zutreffend davon ausgegangen, dass der Beklagte zu 1, für dessen Haftpflicht das beklagte Land einzustehen hatte, den Verkehrsunfall und den daraus entstandenen Schaden der Klägerin schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er unter Verletzung der gemäß § 10 S. 1 StVO geforderten Sorgfalt von dem Behördenparkplatz kommend in die F.-Straße nach rechts einbog, ohne den entgegenkommenden Pkw der Klägerin durchfahren zu lassen, die ihr Vorrecht nicht deshalb verloren hatte, weil sie über der Fahrbahnmitte fuhr.
Rz. 174
§ 10 S. 1 StVO legt dem aus einem Grundstück auf die Straße einfahrenden Fahrzeugführer gesteigerte Pflichten auf. Die Pflichten werden nicht dadurch gemindert, dass der Vorfahrtsberechtigte unter Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot die linke Straßenseite benutzt. Das Vorfahrtsrecht der auf der Straße fahrenden Fahrzeuge gegenüber einem auf eine Straße Einfahrenden gilt grundsätzlich für die gesamte Fahrbahn. Der aus einem Grundstück kommende Fahrzeugführer hat sich grundsätzlich darauf einzustellen, dass der ihm gegenüber Vorfahrtsberechtigte in diesem Sinne von seinem Recht Gebrauch macht. Selbst das Befahren der linken Fahrbahn beseitigt nicht die Verpflichtung des Einfahrenden, dem fließenden Verkehr den Vorrang zu belassen und diesen nicht zu behindern.
Rz. 175
Die Verletzung des Vorfahrtsrechts durch den in die Straße Einfahrenden indiziert sein Verschulden. Wahrt der Einfahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs nicht und kommt es deshalb zu einem Unfall, hat er in der Regel, wenn keine Besonderheiten vorliegen, in vollem Umfang oder doch zum größten Teil für die Unfallfolgen zu haften. Demgegenüber darf der sich im fließenden Verkehr bewegende Vorfahrtsberechtigte, sofern nicht Anzeichen für eine bestehende Vorfahrtsverletzung sprechen, darauf vertrauen, dass der Einbiegende sein Vorrecht beachten werde.
Rz. 176
Nach diesem im Straßenverkehr allgemein geltenden Vertrauensgrundsatz konnte die Klägerin sich grundsätzlich darauf verlassen, dass der Fahrer des VW-Busses ihr Vorfahrtsrecht beachten und sie vorbeilassen würde, ehe er in die F.-Straße einbiegen würde. Soweit der Klägerin der Vertrauensgrundsatz zur Seite stand, brauchte sie nicht vorherzusehen, dass ihre Fahrweise zu einem Unfall führen würde. Sie handelte mithin auch nicht fahrlässig.
Rz. 177
Das Recht sich auf den Vertrauensgrundsatz zu berufen, hatte die Klägerin nicht deshalb eingebüßt, weil sie pflichtwidrig zu weit links gefahren war. Das Rechtsfahrgebot, gegen das die Klägerin nach den insoweit nicht beanstandeten Feststellungen des Berufungsgerichts verstoßen hatte, soll sicherstellen, dass Fahrzeuge sich gefahrlos begegnen und überholen können. Es dient also dem Schutz der Verkehrsteilnehmer, die sich in Längsrichtung auf derselben Straße bewegen. Hingegen sollen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs solche Verkehrsteilnehmer nicht geschützt werden, die diese Straße überqueren oder – wie der Beklagte zu 1 – in sie einbiegen wollen. Die Klägerin durfte mithin weiterhin darauf vertrauen, der Beklagte zu 1 werde ihr Vorfahrtsrecht beachten, obwohl sie gegen das Rechtsfahrgebot verstieß.
Rz. 178
Der Vertrauensgrundsatz gilt zugunsten des Vorfahrtsberechtigten allerdings nicht mehr, sobald dieser aus besonderen Umständen erkennt oder bei gebotener Sorgfalt erkennen kann, dass ihm der Wartepflichtige die Vorfahrt nicht einräumen wird. Dabei gilt, dass der Vorfahrtsberechtigte mit der Missachtung seines Vorrechts solange nicht zu rechnen braucht, wie der Wartepflichtige noch die Möglichkeit hat, sein Fahrzeug durch eine gewöhnliche Bremsung rechtzeitig anzuhalten, sodass der Vorfahrtsberechtigte ungefährdet vor ihm vorüberfahren kann. Erst wenn diese Möglichkeit nicht mehr besteht, wird der Unfall für den Vorfahrtsberechtigten vorhersehbar und stellt sich für ihn die Frage der Vermeidbarkeit.
Rz. 179
Im Streitfall war die Klägerin nicht gehalten, ihr Fahrverhalten zu verändern, sobald für sie der VW-Bus im Bereich der Ausfahrt erkennbar wurde. Es kam mithin nicht, wie die Revision meinte, darauf an, in welcher Entfernung das gegnerische Fahrzeug für die Klägerin bereits zu sehen war. Die Klägerin musste sich nicht bereits bei Erkennbarkeit des gegnerischen Fahrzeugs auf eine Vorfahrtsverletzung durch den Beklagten zu 1 einstellen. Sie durfte darauf vertrauen, dass der Beklagte zu 1 ihr Vorfahrtsrecht beachten würde. Entscheidend war, ob die Klägerin den Unfall hätte vermeiden können, als sie erkennen musste, dass der Beklagte zu 1 ihre Vorfahrt missachten würde. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Klägerin sowohl eine Schrecksekunde als auch die Reaktions- und Bremsansprechzeit zugute zu halten waren. Bei einer durch die Verkehrssituation gebotenen Verringerung der zulässigen Geschwindigkeit unter das bis dahin zulässige Maß ist dem verkehrsgerecht Fahrenden bei Eintritt der kritischen Verkehrslage stets ein...