Dr. iur. Sebastian Berkefeld
Rz. 61
Macht ein Erblasser zu seinen Lebzeiten Zuwendungen, so sollte er nicht versäumen sicherzustellen, dass diese bei der "späteren erbrechtlichen Endabrechnung", insbesondere aber bei der Bemessung des Pflichtteils, berücksichtigt werden. Das Gesetz sieht hierfür zwei grundsätzlich verschiedene "Berechnungsverfahren" vor, welche die "Brücke" zwischen lebzeitiger Zuwendung und späterer erbrechtlicher Endabrechnung darstellen, die sowohl hinsichtlich der Tatbestandsseite wie aber auch der Rechtsfolgen teilweise sehr unterschiedlich sind:
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Dies ist zum einen die Anrechnung auf den Pflichtteil (§ 2315 BGB), die sich allein auf das Pflichtteilsrecht auswirkt. |
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Zum anderen ist dies die Ausgleichung auf den Erbteil (§§ 2050 ff. BGB), die sich zunächst primär auf die Bemessung der sog. Teilungsquoten im Rahmen der Erbauseinandersetzung auswirkt, jedoch über § 2316 BGB auch den Pflichtteil beeinflusst, was insofern konsequent ist, als der Pflichtteil in der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils besteht (§ 2303 Abs. 1 S. 2 BGB); diese "pflichtteilsrechtliche Fernwirkung" ist sogar zwingend (§ 2316 Abs. 3 BGB). |
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Daneben haben die Anrechnung auf den Pflichtteil und die Ausgleichung auf den Erbteil auch noch Auswirkungen auf den Pflichtteilsergänzungsanspruch nach § 2325 BGB. |
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Es ist bei jeder Zuwendung immer klarzustellen, ob eine Anrechnung auf den Pflichtteil oder eine Ausgleichungspflicht nach §§ 2050 ff. BGB oder gar eine Kombination von beiden gewollt ist, wobei Letzteres zur Berechnung nach § 2316 Abs. 4 BGB führt. |
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Hierbei sind unbedingt die Gesetzesbegriffe zu verwenden! Die immer noch zu lesende Formulierung, dass die Zuwendung auf den "Erb- und Pflichtteil anzurechnen" ist, ist nicht nur laienhaft, sondern führt zu unnötigen Streitigkeiten. Auch der oft aus steuerlichen Gründen verwendete Begriff, die Zuwendung erfolge "im Wege der vorweggenommenen Erbfolge", ist in diesem Zusammenhang nicht klar und sollte ggf. präzisiert werden. Völlig unklar ist die mitunter vorkommende Verwendung regional bezogener Begriff, wie etwa, dass die Zuwendung als "Muttergut" oder "Vatergut" erfolge. |
Rz. 62
Derartige Vorempfänge kommen heute in ganz erheblicher Zahl und auch mit bedeutenden Werten in den meisten Familien vor. Die gesetzliche Regelung ist hier keinesfalls befriedigend und dringend reformbedürftig, jedoch hat die Erbrechtsreform 2009 hieran nichts geändert.
Rz. 63
Am stärksten pflichtteilsreduzierend wirkt die bloße Pflichtteilsanrechnung (§ 2315 BGB), jedoch muss sie immer angeordnet werden (siehe Rdn 76 ff.).
Rz. 64
Die Ausgleichungspflicht nach §§ 2050 ff. BGB kennt demgegenüber allerdings sog. geborene Ausgleichungstatbestände, bei anderen Zuwendungen bedarf es jedoch ebenfalls wiederum einer ausdrücklichen Ausgleichungsanordnung (§ 2050 Abs. 3 BGB; siehe Rdn 106).
Die verschiedenen auftretenden Probleme werden nachstehend anhand einiger Beispiele verdeutlicht.
Rz. 65
Beispiel 1
Grundfall: Der Witwer Otto Normalerblasser besitzt drei Kinder, Michael und Michaela aus seiner früheren Ehe und den nichtehelichen Sohn Stefan. Der Wert seines Vermögens beträgt 420.000 EUR. Er will dem älteren Sohn Michael einen Bauplatz im Wert von 60.000 EUR zuwenden, der "voll" auf den Pflichtteil angerechnet werden soll. Da der Pflichtteil von Michael im Erbfall am restlichen Vermögen des Erblassers (360.000 EUR) nur noch 60.000 EUR betragen würde, geht er davon aus, dass Michael gar keinen Pflichtteil mehr hätte. Ist das richtig?
Rz. 66
Die Berechnung des Pflichtteils bei einer Anrechnung eines Vorempfangs bestimmt sich nach § 2315 BGB. Sie lässt sich in einer Formel wie folgt ausdrücken:
Dabei bedeuten: |
n |
= |
Reinnachlass zum Zeitpunkt des Erbfalls, also ohne die früheren Vorempfänge |
s1 |
= |
bei dem betreffenden Pflichtteilsberechtigten anrechnungspflichtige Zuwendung |
q |
= |
die dem gesetzlichen Erbteil des Berechtigten entsprechende Quote |
P |
= |
effektiver gesetzlicher Pflichtteilsanspruch des betreffenden anrechnungspflichtigen Pflichtteilsberechtigten |
In unserem Beispiel ergibt sich demnach:
P = [(360.000 + 60.000) : 6] – 60.000 = 10.000
Rz. 67
Aus dieser Formel ergibt sich zugleich, dass der Pflichtteil nicht um den vollen Wert der Zuwendung gekürzt wird, da der Zuwendungswert ja zunächst dem Nachlass hinzugerechnet wird. Vielmehr ergibt sich dadurch eine Kürzung des Anrechnungswertes nach der Formel:
Rz. 68
Für die Gestaltung folgt daraus die Konsequenz, dass die bloße Anrechnungsbestimmung nicht genügt, um eine Reduzierung des Pflichtteilsanspruchs um den Wert der Zuwendung im Verhältnis 1:1 zu ermöglichen. Hier hilft nur ein entsprechend beschränkter Pflichtteilsverzicht.