Dr. iur. Sebastian Berkefeld
aa) Einführung
Rz. 46
Den vorläufigen Schlusspunkt in der Diskussion zur Inhaltskontrolle von Erb- und Pflichtteilsverzichten bildet die Entscheidung des BGH vom 19.1.2011. In dem dort entschiedenen Fall hatte kurz vor Eintritt des Erbfalls eine körperbehinderte Sozialhilfeempfängerin ohne Gegenleistung auf ihren gesetzlichen Pflichtteil verzichtet. Der Sozialhilfeträger hatte nach Eintritt des Erbfalls die Sittenwidrigkeit des Pflichtteilsverzichts geltend gemacht und den deswegen angeblich noch bestehenden Pflichtteilsanspruch übergeleitet. Demgegenüber hat der BGH festgestellt, dass ein Pflichtteilsverzicht eines behinderten Sozialleistungsbeziehers grundsätzlich nicht sittenwidrig ist. Die Entscheidung ist sehr umfangreich und ausführlich begründet. Insbesondere konnte der BGH nicht feststellen, dass in solchen Fällen ein Verstoß gegen eine übergeordnete Werteordnung vorliege. Dabei stellt der BGH seine neue Entscheidung in eine Kontinuität zur Rspr. dieses Senats zur grundsätzlichen Wirksamkeit des sog. Behindertentestaments. Dazu betont er abermals, dass der Nachranggrundsatz des Sozialhilferechts (§ 2 SGB XII), mit dessen Verletzung vor allem die Sozialhilfeträger die Sittenwidrigkeit solcher Gestaltungen begründet hatten, vielfach selbst im Sozialhilferecht durchbrochen werde und damit seine prägende Kraft verloren habe.
bb) Negative Erbfreiheit
Rz. 47
Hinzu kommt aber ein völlig neuer Gedanke, der der sog. "negativen Erbfreiheit": Die Entscheidung, ob jemand die Erbschaft oder seinen Pflichtteil erhalten möchte, sei von der Privatautonomie, ja sogar mehr noch, von der Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG gedeckt. Dadurch werde auch eine "negative Erbfreiheit" geschützt. Der durch Art. 14 Abs. 1 GG gewährleisteten Erbrechtsfreiheit sei auch ein "Gegenstück" i.S. einer "negativen Erbfreiheit" zu entnehmen. Wenn einerseits Erblasser frei darin seien, andere zu ihren Erben einzusetzen, sei dies andererseits nur insofern zu billigen, als die Betroffenen damit einverstanden sind. Es gäbe keine Pflicht zu erben oder sonst etwas aus einem Nachlass anzunehmen. Wenigstens müsse den Betreffenden das Recht zur Ausschlagung zustehen, um sich gegen den vom Gesetz vorgesehenen Von-selbst-Erwerb (§§ 1922, 1942 BGB) wehren zu können. Die grundsätzliche Ablehnungsmöglichkeit gegenüber Zuwendungen sei daher "notwendiger Widerpart", der einen unmittelbar wirksamen Vermögensübergang ohne eigenes Zutun erst rechtfertige. Insoweit könne für einen erbrechtlichen Erwerb von Vermächtnis- oder Pflichtteilsansprüchen im Grundsatz nichts anders gelten als für die Erbenstellung selbst. In diesem Sinn stehe Pflichtteilsberechtigten für einen Verzicht nicht nur die durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistete Privatautonomie, sondern auch der Grundgedanke der Erbfreiheit zur Seite.“
cc) Sozialhilferechtliche Sanktionen
Rz. 48
Jedoch weist der BGH am Ende seiner Entscheidung darauf hin, dass auch dann, wenn ein Pflichtteilsverzicht eines Sozialleistungsbeziehers wirksam sei, u.U. sehr weitreichende sozialhilferechtliche Sanktionsmöglichkeiten für den Sozialhilfeträger bestehen können, etwa nach § 26 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB XII. Dies überrascht, denn im einschlägigen Schrifttum war bis dahin stark bezweifelt worden, ob diese Sanktionsvorschriften auf einen Erb- oder Pflichtteilsverzicht anwendbar sind. Allerdings wird das Risiko in der Praxis häufig dadurch entschärft, dass die Ausschlagungsfrist gemäß § 1944 Abs. 1 BGB nur sechs Wochen beträgt. Auch wenn diese Frist nicht vor Bekanntgabe des Behindertestaments durch das Nachlassgericht und erst ab Neubestellung des Betreuers zu laufen beginnt (§ 210 Abs. 1 BGB), dürften die Sozialbehörden regelmäßig erst nach dem Verstreichen der Frist von dem Anfall der Erbschaft im Zuge eines Behindertentestaments erfahren.
dd) Auswirkungen auf das Behinderten- und Bedürftigentestament
Rz. 49
In einem sehr ausführlichen "obiter dictum" setzt sich der Senat in seiner Grundsatzentscheidung auch mit der Zulässigkeit des Behindertentestaments auseinander und verneint insbes. die Möglichkeit der Überleitbarkeit des Ausschlagungsrechts des behinderten pflichtteilsberechtigten Erben nach § 2306 Abs. 1 BGB