Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 30
Fallbeispiel 82: Die fehlerhafte Herausgabe von Erbschaftsmitteln
Der Testamentsvollstrecker eines klassischen Behindertentestaments legte auf Aufforderung des Ergänzungsbetreuers, er solle den Anteil der Betroffenen am Erbe für diese anlegen, den sich aus der Erbquote ergebenden Betrag von 30.000 EUR auf einem Sparkonto an, das auf den Namen der Betroffenen lautete.
Das Amtsgericht setzte in der Folgezeit eine Vergütung und einen Aufwendungsersatz für den Ergänzungsbetreuer in Höhe von 1.100 EUR aus der Staatskasse fest, die hiergegen Beschwerde erhob.
Rz. 31
Überlässt ein Testamentsvollstrecker einen Nachlassbestandteil dem Erben zur freien Verfügung, so entfällt der Schutz der Testamentsvollstreckung. Die Wirkung der Freigabe tritt unabhängig davon ein, ob die Voraussetzungen für einen entsprechenden Freigabeanspruch vorgelegen haben. Auch ein Irrtum des Testamentsvollstreckers ändert an der einmal eingetretenen dinglichen Rechtslage der freien Verfügungsmacht des Erben nichts mehr. Auch die Pflichtwidrigkeit des Handelns führt zu keinem anderen Ergebnis.
Rz. 32
Der fehlerhaft handelnde Testamentsvollstrecker, der einen vermeintlichen Freigabeanspruch erfüllt hat, kann aber nach § 812 Abs. 1 S. 1 BGB vom Erben die Wiederherstellung seines Verwaltungsrechts und bei Unmöglichkeit der Herausgabe des freigegebenen Gegenstands Wertersatz nach § 818 Abs. 2 BGB verlangen.
Zitat
"Die Voraussetzungen des Bereicherungsanspruchs sind auch dann erfüllt, wenn der Testamentsvollstrecker irrtümlich angenommen hat, er bedürfe bestimmter Nachlassgegenstände zur Erfüllung seiner Obliegenheiten nicht, und wenn er sie deshalb dem Erben freigegeben hat. Entsprechendes gilt, wenn der Testamentsvollstrecker seine Freigabehandlung als solche gar nicht erkannt hat und ein rechtlicher Grund für die Freigabe nicht gegeben war."
Der BGH saldiert in dieser Entscheidung das vorhandene Vermögen mit dem Bereicherungsanspruch, dem der Erbe ausgesetzt ist, und kommt somit zu dem Ergebnis:
Zitat
"Selbst wenn der Testamentsvollstrecker beim Behindertentestament im Rahmen einer Dauertestamentsvollstreckung den Nachlassgegenstand entgegen den Anordnungen des Erblassers pflichtwidrig zugunsten des Betroffenen freigibt, lässt dies dessen Mittellosigkeit nicht entfallen."
Rz. 33
Ergebnis Fallbeispiel 82:
Die Beschwerde der Staatskasse war somit erfolglos. Aber zu Recht?
Im Sozialhilferecht des SGB XII – und auch des SGB II – wäre dieses Ergebnis so nicht denkbar, weil aus der Subsidiarität der staatlichen Fürsorge folgt, dass sie erst eingreifen soll, wenn der Hilfebedürftige ihm zur Verfügung stehende Mittel verbraucht hat. Es gibt im Regelfall keine Berücksichtigung von Schulden und auch bei der Feststellung des Vermögens werden in der Regel keine Passiva abgezogen.
Zitat
"Die Berücksichtigung von Verbindlichkeiten bei der Feststellung der vorhandenen Vermögenswerte ist allenfalls geboten, wenn eine Verbindlichkeit unmittelbar auf dem fraglichen Vermögensgegenstand (z.B. eine auf ein Grundstück eingetragene Hypothek) lastet, da der Vermögensgegenstand in diesem Fall nicht ohne Abzüge veräußert werden kann."
Die Entscheidung des BGH hat diesen Unterschied nicht diskutiert, was umso weniger verständlich ist, als der BGH in einer Entscheidung aus Juli 2021unter Berufung auf seine Rechtsprechung aus 2013 bestätigt: "Bei der Ermittlung des einzusetzenden Vermögens ist grundsätzlich nicht zu berücksichtigen, ob den Vermögenswerten Schulden oder Verpflichtungen des Hilfebedürftigen gegenüberstehen." Wegen der Verweisung auf § 90 SGB XII hätte m.E. der Unterschied zum Vermögensbegriff nach Vorbemerkung 1.1 KV GNotKG diskutiert werden und ein Ergebnis nach sozialhilferechtlichen Regeln gefunden werden müssen.
In einer Entscheidung zum Vermögensschonbetrag bei Eingliederungshilfeleistungen hat der BGH ausdrücklich die sozialhilfe- bzw. eingliederungshilferechtliche Position eingenommen.