Rz. 1
Die Ehe von M und F1 wurde nach kurzer Dauer geschieden. M ist seit 2 Jahren mit F2 verheiratet, von der er aber bereits wieder getrennt lebt, und zwar seit einem halben Jahr. M hat ein bereinigtes Nettoeinkommen von monatlich 3.000 EUR. Die geschiedene Ehefrau F1 hat aus einer Teilzeittätigkeit ein bereinigtes Nettoeinkommen von monatlich 500 EUR; F1 kann keine Vollzeitstelle finden. F2 ist, wie bereits in der Zeit vor der Trennung, nicht berufstätig. F2 könnte im Falle einer Berufstätigkeit ein monatliches Nettoeinkommen von 1.500 EUR erzielen. F1 und F2 verlangen von M Unterhalt.
I. Ehegattenunterhalt der F1
1. Anspruchsgrundlage
Rz. 2
Bei F1 soll im Fallbeispiel ein Anspruch auf Geschiedenenunterhalt (vgl. hierzu Fall 16, § 3 Rdn 31) bestehen.
2. Bedarf
Rz. 3
Die Dreiteilungsmethode auf Bedarfsebene wurde vom BVerfG abgelehnt (vgl. Fall 33, siehe § 9 Rdn 1).
Der Unterhalt ist für beide Frauen getrennt nach dem Halbteilungsgrundsatz zu ermitteln (vgl. Fall 33, siehe § 9 Rdn 1). Die Rangfrage, also die Frage, ob ein Partner vorrangig bzw. nachrangig ist, erlangt erst im Rahmen der Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners Bedeutung – also dann, wenn die festgestellten Unterhaltsansprüche vom Unterhaltsschuldner nicht erfüllt werden können (zum eheangemessenen Selbstbehalt und zum Ehegattenmindestselbstbehalt vgl. Fälle 33 und 18, siehe § 9 Rdn 1, § 3 Rdn 85).
Hinweis
An dieser Stelle könnte nach Lektüre der vorangegangenen Fälle der – letztlich unberechtigte – Einwand erhoben werden, der eheangemessene Selbstbehalt gegenüber der ersten Ehefrau müsse rechnerisch doch stets beeinträchtigt werden, wenn der Unterhaltsschuldner von der ihm verbliebenen "Hälfte" nunmehr auch noch etwas für die zweite Ehefrau abgeben müsse. Dass eine solche Überlegung zu kurz greift, zeigt sich deutlich, wenn man nur bedenkt, dass sich das Einkommen des Unterhaltsschuldners nach der Scheidung erhöhen kann, ohne dass die erste Ehefrau hieran teilhat (z.B. Karrieresprung des Unterhaltsschuldners oder Erbschaft, aus der Einkünfte erzielt werden, oder der Splittingvorteil aus der neuen Ehe).
Es gilt der Halbteilungsgrundsatz (Grundsatz gleicher Teilhabe an den ehelichen Lebensverhältnissen).
Rz. 4
Ein etwaiger Unterhaltsanspruch von F2 ist bei der Bestimmung des Bedarfs von F1 nicht vom Einkommen des M abzuziehen. Denn diese Unterhaltslast hat die Ehe von M und F1 nicht geprägt (vgl. Fall 33, siehe § 9 Rdn 1).
BGH, Urt. v. 25.1.2012 – XII ZR 139/09
… hat der Unterhaltsanspruch der nachfolgenden Ehefrau keine Auswirkung auf den Unterhaltsbedarf der früheren Ehefrau nach § 1578 BGB; dieser Anspruch ist allein im Rahmen der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen nach § 1581 BGB zu berücksichtigen, …
BGH, Beschl. v. 25.9.2019 – XII ZB 25/19 Rn 32
Allerdings bleibt nach der Rechtsprechung des Senats eine nacheheliche Entwicklung, die keinen Anknüpfungspunkt in der Ehe findet, ohne Auswirkung auf den Unterhaltsbedarf nach den ehelichen Lebensverhältnissen. Dies gilt grundsätzlich insbesondere für die Unterhaltspflicht gegenüber einem neuen Ehegatten, die erst nach der Scheidung der ersten Ehe eintreten kann (Senatsurteil BGHZ 192, 45 = FamRZ 2012, 281 Rn 26 m.w.N. und Senatsbeschluss vom 7.5.2014 – XII ZB 258/13 – FamRZ 2014, 1183 Rn 15 m.w.N.).
Rz. 5
Bei der Bedarfsbestimmung ist jedes Einkommen, soweit es aus Erwerbstätigkeit (und nicht beispielsweise Kapital oder aus Vermietung oder aus einer Altersversorgung) erzielt wird, um 1/10 zu kürzen (sog. Erwerbstätigenbonus).
Bereinigtes Nettoeinkommen des M: 3.000 EUR
Erwerbstätigenbonus: 3.000 EUR × 10 % = 300 EUR
Bedarfsbestimmendes Einkommen des M: 3.000 – 300 EUR = 2.700 EUR
Bereinigtes Nettoeinkommen der F1: 500 EUR
Erwerbstätigenbonus: 500 EUR × 10 % = 50 EUR
Bedarfsbestimmendes Einkommen F1: 500 – 50 EUR = 450 EUR
Gesamtbedarf: 3.150 EUR (2.700 + 450 EUR)
Bedarf von F1: ½ von 3.150 EUR = 1.575 EUR
3. Ungedeckter Bedarf (Unterhaltshöhe)
Rz. 6
Einen Teil ihres Bedarfs kann F1 mit Eigeneinkommen decken. M muss nur für den ungedeckten Restbedarf aufkommen.
ungedeckter Restbedarf: ermittelter Bedarf abzüglich das um den Erwerbstätigenbonus gekürzte Eigeneinkommen = 1.575 – 450 EUR = 1.125 EUR
4. Leistungsfähigkeit
Rz. 7
Bei Zahlung von 1.125 EUR Ehegattenunterhalt verbleiben M 1.875 EUR (3.000 – 1.125 EUR).
Bei der Prüfung der Leistungsfähigkeit ist aber nunmehr zu berücksichtigen, dass M auch der F2 zum Unterhalt verpflichtet ist. Eine solche Unterhaltspflicht kann Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des M haben.
§ 1581 Leistungsfähigkeit
Ist der Verpflichtete nach seinen Erwerbs- und Vermögensverhältnissen unter Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande, ohne Gefährdung des eigenen angemessenen Unterhalts dem Berechtigten Unterhalt zu gewähren, so braucht er nur insoweit Unterhalt zu leisten, als es mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und die Erwerbs- und Vermögensverhältnisse der geschiedenen Ehegatten der Billigkeit entspricht. Den Stamm des Vermögens braucht er nicht zu verwerten, soweit die Verwertung unwirtschaftlich oder unter Berücksichtigung der beiderseitigen wirtschaftlichen Verhältni...