1. Grenzen des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter
Rz. 66
Eine Gesamtbetrachtung vermittelt den Eindruck, dass die Rechtsprechung in ihrem Bestreben, mit einem Schutz Dritter aus fremdem Vertrag den unzureichenden deliktsrechtlichen Vermögensschutz zu verbessern, an ihre Grenzen stößt (vgl. § 8 Rdn 6, 10 ff.). Das ursprüngliche Ausnahmeinstitut ist zu einer selbstständigen Vertragsart und zum Schwerpunkt der vertraglichen Dritthaftung ausgeweitet worden. Nach dem BGH hat sich "auf dieser Entwicklungslinie … eine Berufshaftung für Rechtsanwälte, Sachverständige, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer herausgebildet". Die Bedeutung eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter wird noch dadurch verstärkt, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung eine solche Dritthaftung mit derjenigen aus Prospekthaftung (vgl. § 8 Rdn 11) kombiniert, und zwar entweder neben einer Prospekthaftung ("Anspruchsgrundlagenkonkurrenz") oder als Auffangtatbestand an deren Stelle.
Rz. 67
Die verbreitete Unsicherheit in diesem Bereich, die v.a. die Reichweite einer Schutzwirkung von Rechtsberaterverträgen für Dritte betrifft, wird dadurch gefördert, dass mehrere Senate des BGH mit unterschiedlichen Tendenzen an der Rechtsprechung zur vertraglichen Dritthaftung der Rechtsberater mitwirken:
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Die Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des BGH, der für Anwaltsregresse und Haftung aus steuerlicher Beratung zuständig ist, gewährt einen solchen Drittschutz nur zurückhaltend, um "eine uferlose Ausdehnung des Kreises der in den Schutzbereich einbezogenen Personen zu vermeiden". Dementsprechend hat dieser Senat zu Recht entschieden, ein Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte solle nicht das Risiko absichern, dass dessen Vertragsgegner zum Schadensersatz außerstande sei. |
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Die Rechtsprechung des X. Zivilsenats des BGH, der für einen besonderen Werkvertragsbereich zuständig war, ist uneinheitlich. Einerseits stammen von diesem Senat Entscheidungen, in denen – jeweils unter Rückgriff auf die ursprüngliche "Wohl und Wehe"-Rechtsprechung (vgl. Rdn 6) – eine vertragliche Schutzwirkung für Dritte verneint wurde. Andererseits hat dieser Senat den Kreis der durch einen Gutachtenvertrag geschützten Dritten auf einen Kreditbürgen sowie auf "eine nicht bekannte Vielzahl" von Kreditgebern und Kapitalanlegern ausgeweitet. Früher hatte es dieser Senat noch für erforderlich gehalten, dass eine Schutzpflicht auf eine überschaubare, klar abgrenzbare Personengruppe beschränkt wird. |
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Der III. Zivilsenat des BGH, der seit 2003 – anstelle des X. Zivilsenats des BGH – für Schadensersatzansprüche wegen fehlerhafter Gutachten zuständig ist, hat in früheren Entscheidungen herausgestellt, es bestehe kein rechtliches Hindernis, die Schutzwirkung eines Steuerberatervertrages über die Erstellung einer Unternehmensbilanz auf mehrere Kreditgeber auszudehnen, und die Schutzpflicht eines Gutachtenvertrages setze nicht voraus, dass der Gutachter die Zahl oder den Namen der zu schützenden Personen kenne. In seinen Urteilen vom 14.6.2007 hat dieser Senat angenommen, eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft könne Kapitalanlegern – also einer regelmäßig unbekannten Vielzahl von Personen – aus einer Schutzwirkung des Vertrages über die Prüfung eines Anlageprospekts haften (vgl. Rdn 54). |
Rz. 68
Zwar sind an die Prüfung, ob die Vertragspartner aufgrund ihrer Vertragsfreiheit im konkreten Einzelfall einen bestimmten Dritten oder einen engen oder weiten Personenkreis in den Schutzbereich ihres Vertrages einbezogen haben, strenge Anforderungen zu stellen. Dafür darf aber nicht nach Fallgestaltungen differenziert werden, die im Kern gleichartig sind; so ist es für einen Willen der Vertragspartner, eine Schutzwirkung ihres Gutachten- oder Prüfvertrages für einen oder mehrere Dritte zu begründen, nicht ausschlaggebend, ob der Vertrag die Prüfung eines Jahresabschlusses oder eines Anlageprospekts betrifft. Die gebotene restriktive Annahme einer Drittbegünstigung ist vielmehr erforderlich, weil der Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ein durch richterliche Rechtsfortbildung entwickeltes Ausnahmeinstitut ist, das Unzulänglichkeiten des deliktischen Vermögensschutzes ausgleichen soll (vgl. Rdn 3, § 8 Rdn 6). Deswegen kann eine vertragliche Schutzwirkung für mehrere Dritte nur dann vereinbart sein, wenn es sich um eine überschaubare, objektiv abgrenzbare Personengruppe handelt.
Der Rechtsberater darf nicht einer vertraglichen Risikohaftung ausgeliefert werden, deren Grenzen er bei Vertragsschluss nicht sicher erkennen kann. Sonst kann die Übernahme eines Mandats zu einem unberechenbaren, möglicherweise existenzbedrohenden Wagnis werden, das infolge Unkenntnis nicht versichert ist.