Dr. iur. Holger Bremenkamp
Rz. 33
Der Arzt schuldet seinem Patienten neben einer sorgfältigen Diagnose die Anwendung einer Therapie, die dem jeweiligen Stand der Medizin entspricht.
Rz. 34
Dabei ist die Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes (Therapiefreiheit). Ihm wird bei der Therapiewahl ein weiter Beurteilungsermessen zugebilligt, in dessen Rahmen er die Behandlungsmethode wählen kann, die er aufgrund der Besonderheiten im konkreten Fall sowie seiner eigenen praktischen Erfahrung mit der Behandlungsmethode für angezeigt erachtet. Bei der Wahl der Therapie ist der Arzt nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt. Über bestehende unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten ist aber aufzuklären, wenn sie gleichwertig sind. Gibt es bei Behandlungsalternativen keine wesentlichen Unterschiede in der konkreten Heilungsprognose, wird der Arzt in der Regel die sicherere Methode wählen müssen, wenn eine solche angesichts der je individuellen Risiken einer Behandlung tatsächlich festgestellt werden kann. Entscheidet der Arzt sich für die riskantere Therapie, so muss er dies mit besonderen Sachzwängen des konkreten Falls oder mit einer günstigeren Heilungsprognose sachlich rechtfertigen können. Auch besteht eine Pflicht zur Weiterverweisung an einen anderen Arzt, wenn es eine überlegene Therapie gibt, die der behandelnde Arzt nicht voll beherrscht oder die nur in einer Spezialklinik angeboten wird.
Rz. 35
Die Grenze zwischen anerkannten und umstrittenen oder neuen Behandlungsmethoden ist angesichts der ständigen Fortentwicklung und Zunahme medizinischen Wissens fließend: Die Außenseitermethode von gestern ist die Schulmedizin von heute, die Schulmedizin von heute ist der Behandlungsfehler von morgen. Ein Arzt, der mit einer Außenseitermethode behandelt, begeht daher nicht ohne Weiteres einen Behandlungsfehler, hat aber alle bekannten und medizinisch vertretbaren Sicherungsmaßnahmen anzuwenden und muss umso vorsichtiger vorgehen, je einschneidender ein Fehler sich für den Patienten auswirken kann: Eine verantwortliche medizinische Abwägung unter Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer abzusehenden oder zu vermutenden Nachteile mit der standardmäßigen Behandlung unter Berücksichtigung des Wohls des Patienten muss die Anwendung dieser Methode rechtfertigen. Es besteht keine Verpflichtung, stets das neueste Therapiekonzept mit den jeweils modernsten medizinischen Geräten zu verfolgen. Bei der Beurteilung, ob eine apparative Ausstattung dem medizinischen Standard entspricht, spielen auch Wirtschaftlichkeitserwägungen eine Rolle. So genügt eine Behandlungsmethode zwar an sich nicht mehr dem einzuhaltenden Qualitätsstandard, wenn es neue anerkannte Methoden gibt, die risikoärmer oder für den Patienten weniger belastend sind und/oder bessere Heilungschancen bieten. Den Kliniken wird aber nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch aus Kostengründen eine Übergangszeit zugebilligt, in der nach älteren, bis dahin bewährten Methoden weiter behandelt werden darf, sofern dies nicht schon wegen der Möglichkeit unverantwortlich erscheint, den Patienten in eine besser ausgestattete Klinik zu überweisen. Insofern sind gewisse Qualitätsunterschiede bei der Behandlung von Patienten – je nach Art des Krankenhauses – zulässig, nicht jedoch eine Zwei-Klassen-Medizin. Besondere Haftungsfragen wirft der Einsatz von Robotik in Medizin und Pflege auf.
Rz. 36
Die vom Arzt gewählte Therapie muss entsprechend den Regeln der ärztlichen Kunst ausgeführt werden. Bei der Beurteilung des ärztlichen Verhaltens sind jedoch stets die konkreten Behandlungsbedingungen zu berücksichtigen. Zwar ist auch in Eil- und Notfällen der Facharztstandard zu wahren. In einer akuten Notfallsituation sind aber die zwangsläufigen Beschränkungen an Überlegungszeit und sachlich/personell verfügbaren Mitteln angemessen zu berücksichtigen; in einem solchen Fall wurde etwa das versehentliche Punktieren der Ellenbeugenarterie nicht als Behandlungsfehler gewertet. Eine Erschwerung kann darin liegen, dass ein Arzt aus seiner Praxis heraus zu einem akuten Notfall gerufen und zu sofortigem Handeln gezwungen wird. Andererseits besteht eine Pflicht zu rechtzeitigen Notfallvorkehrungen, insbesondere wenn speziell die Notfallbehandlung zum Standard gehört.
Rz. 37
Aus der umfangreichen Kasuistik seien nachstehend einige Fallgruppen und Fallbeispiele angeführt, die bei der ärztlichen Behandlung nach einem Unfall eine Rolle spielen können. So ist es behandlungsfehlerhaft, wenn es an ausreichender hygienischer Vorsorge fehlt, insbesondere bei mangelhafter Desinfektion oder bei unzureichenden aseptischen Vorkehrungen. In Notfällen können die Hygienestandards aber reduziert sein. Auch begründet die Infektion mit einem multiresistenten Erreger nicht per se eine Haftung der Klinik und stellt auch kein Indiz für eine mangelhafte Behandlung dar. Für eine Umkehr der Da...